Ich hatte nichts geschrieben – nicht aus Mangel an Zeit, nicht aus Gleichgültigkeit, nicht, weil ich nicht gewollt hätte. Sondern weil ich in jenem Moment nicht wusste, wer ich noch wäre, wenn ich es täte.
Seit dieser einen Familienfeier war alles anders geworden. Oder, um präziser zu sein: Ich war es. Nicht die Welt hatte sich verändert, nicht die Menschen um mich herum – sondern mein Inneres, mein Blick auf alles, was vorher so fest, so selbstverständlich schien.
Dabei war es so harmlos gewesen, fast klischeehaft in seiner ländlichen Unbeschwertheit – laut, chaotisch, herzlich. Die alte Scheune, das überladene Buffet, Kinder mit Strohhüten, die kreischend durchs Gras rannten. Jochens Mutter hatte, wie jedes Jahr, viel zu viel gekocht. Paula tanzte barfuß über die Wiese. Und Silke?
Silke war... anders. Rätselhaft. Unnahbar. Ich verstand ihr Verhalten nicht. Noch am Abend zuvor hatte sie mir eine Nachricht geschickt, in der sie sich auf mich freute. Sie sprach von einer Überraschung, die sie für mich bereithalte – ein einzelner Satz, ein kleines Emoji, kaum mehr als ein Hauch von Andeutung, und doch war es da, dieses Funkeln zwischen den Zeilen. Ich hatte mit allem gerechnet, wirklich mit vielem. Aber nicht mit Schweigen.
Sie hatte mich den ganzen Tag über kaum eines Blickes gewürdigt. Kein Flirt, kein verstecktes Lächeln, kein beiläufiges Wort – nichts. Nur dieses eine Mal, als wir beide an der Kuchentheke standen. Sie reichte mir ein Stück Baiser-Torte, unsere Finger berührten sich für den Bruchteil einer Sekunde, und ich glaubte – wie so oft – es mir nur einzubilden. Die Bedeutung. Das Knistern. Die Erinnerung.
Doch erst, als sie ging, kam sie zu mir.
Es war spät, der Himmel über uns wirkte milchig, als hätte der Tag seine Farbe verloren. Ich war gerade auf dem Weg zur Toilette im Haupthaus, die Schritte gedankenverloren, der Blick gesenkt, als plötzlich ihre Hand nach meinem Handgelenk griff. Kein fester Griff, kein Ruck – nur ein sicheres, entschlossenes Halten, das keinen Zweifel ließ.
Sie sagte nichts. Kein Lächeln, keine Begrüßung. Nur dieser Blick, der nicht fragte, sondern wusste.
Schweigend zog sie mich mit sich durch den Flur. Die alten Dielen unter unseren Füßen knarzten leise, fast vertraut, als wollten sie nichts verraten. Ich wusste sofort, wohin sie wollte. Ich kannte diesen Weg, diese Schritte, diese Tür.
Ihr altes Kinderzimmer.
Ein Raum, in dem die Zeit stehen geblieben war. Staub lag auf den Möbeln, Poster aus den Zweitausendzehnern klebten schief an den Wänden, das Bett war zu klein für uns beide, bedeckt von einem lila Überwurf, der wie ein vergessenes Geheimnis wirkte. Es roch nach Holz, nach Staub und nach den Sommern vergangener Jahre – wie ein Archiv ihrer Jugend.
Sie schloss die Tür hinter uns. Langsam. Ohne Hast.
Ich wollte etwas sagen – ein Wort, eine Frage, eine Geste. Doch bevor ich dazu kam, war sie bereits auf den Knien. Kein Zögern. Kein fragendes „Darf ich?“. Nur dieser eine, tiefe Blick, der alles sagte, was ich nicht auszusprechen wagte. Ein stilles Versprechen, klar und bedingungslos.
Sie hob mein Kleid an, schob meinen Slip zur Seite – mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erschreckte und zugleich beruhigte.
Und dann... war sie da.
Ihre Zunge war warm. Nicht fordernd. Nicht eilig. Sie war einfach da. Eine Bewegung wie ein Gebet auf meiner Haut, wie eine Antwort auf eine Frage, die ich nie laut gestellt hatte. Eine Berührung, die nicht nahm, sondern schenkte.
Ich klammerte mich an der Fensterbank fest. Das kühle Glas vibrierte unter meiner Hand, als wollte es mein Zittern auffangen und mir Halt geben. Meine Knie gaben nach, wurden weich, doch mein Rücken blieb aufrecht – fast trotzig, als würde ich mich gegen das, was geschah, auflehnen müssen, um es ganz zu begreifen.
Meine Finger krallten sich in die Holzrahmen, mein Kopf fiel nach hinten, mein Haar streifte meinen Nacken – ein feiner Reiz, kaum spürbar, und doch zu viel in seiner Zartheit.
Ich strich es zur Seite. Langsam. Nicht, um besser sehen zu können, sondern als würde ich mir selbst eine Bühne bereiten für das, was mich gleich durchfluten würde.
Ich hatte die Augen geschlossen – nicht aus Scham. Nicht aus Angst. Sondern aus dem Wunsch heraus, ganz bei mir zu bleiben. Oder bei ihr. In der Dunkelheit, in der nur wir beide existierten.
Und dann kam ich.
Nicht plötzlich. Nicht wie ein Blitz. Es war eine Welle. Sanft erst, dann fordernd, schließlich überwältigend. Sie streichelte, sie flutete, sie brach. Kein Laut verließ meine Lippen, aber mein Körper schrie. Meine Schenkel spannten sich an, mein Becken hob sich ihr entgegen – jenseits jeder bewussten Entscheidung.
Es war kein Drang, kein Trieb – es war ein Geschenk. Ein tiefes, leises, absolutes Beben.
Ich atmete aus. Langsam. Und in diesem einen Ausatmen lag alles, was ich war. Alles, was sie mir gegeben hatte. Alles, was zwischen uns stand – und fiel.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand sie bereits an der Tür. Noch immer kein Lächeln. Nur dieser Blick, der alles in sich trug – Distanz, Nähe, Klarheit.
„Wenn du mehr willst, schreib mir. Oder schweig. Und es ist nie passiert.“
Dann ging sie.
Und ich blieb zurück. Allein in diesem still gewordenen Kinderzimmer, in dem nichts mehr so war wie zuvor. Meine Beine zitterten noch immer, der feuchte Stoff meines Slips klebte an mir wie ein stummes Geständnis, das sich nicht mehr abstreifen ließ. Zwischen meinen Oberschenkeln brannte es – kein Schmerz, sondern ein Echo, das noch in mir pulsierte, ein Nachklang ihrer Zunge, der nicht weichen wollte.
Ich legte die Hand auf die Fensterbank, nicht weil ich das Gleichgewicht verlor, sondern weil ich nicht wusste, wohin mit mir. Mein Körper hatte einen Ort gefunden, den mein Verstand noch suchte. Mein Brustkorb hob und senkte sich flach, unruhig – als wäre da ein inneres Tier, das nicht verstand, was gerade geschehen war.
Ich fuhr mir durchs Haar, doch meine Finger zitterten dabei. Auf meinen Lippen spürte ich ein leichtes Brennen – ich hatte mir unbewusst auf die Innenseite gebissen, um keinen Laut von mir zu geben. Ich wollte schweigen, nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht. Doch selbst jetzt war ihr Geschmack noch auf mir – salzig, warm, fordernd und vertraut wie ein Geheimnis, das sich selbst nicht schämt.
Ich hätte es nie erwartet. Nicht von ihr. Nicht hier. Und nicht auf diese Weise.
Doch dann – ganz plötzlich, wie ein Schnitt – kam er. Der Gedanke.
Jochen.
Mein Atem stockte. Nicht vor Lust. Vor Scham. Vor der plötzlichen Erkenntnis, dass ich ihn betrogen hatte – nicht in Gedanken, nicht mit einem Chat, nicht mit einem Spiel. Ich hatte ihn mit meinem Körper betrogen. Mit allem, was ich war.
Und ausgerechnet mit ihr. Mit seiner Schwester.
Ich taumelte zurück, zwei Schritte, fast gegen das alte Regal, das quietschte, als würde es protestieren. Mein Blick fiel auf das schmale Kinderbettgestell in der Ecke, auf die verblichene „Bibi Blocksberg“-Bettwäsche, die über Jahre hinweg gewaschen worden war, bis sie fast durchsichtig wurde. Ein Ort, der früher Geborgenheit bedeutete, war nun entweiht. Er trug jetzt eine Spur von mir. Oder von uns.
Was, wenn uns jemand gehört hatte? Das Knarzen der Dielen, mein schwerer Atem, ein Schatten unter der Tür? Was, wenn Paula etwas gesehen hatte? Oder – noch schlimmer – Jochens Mutter?
Mein Herz begann zu rasen. Die Hitze der Lust war verflogen, hatte Platz gemacht für ein neues, dumpfes Beben: Angst. Nicht Reue. Sondern das nackte, schmerzhafte Wissen, dass ich entdeckt werden könnte. Nicht weil ich es bereute. Sondern weil ich nicht wusste, was es über mich sagte.
Ich sah zur Tür. Sie war nur angelehnt. War sie das vorher auch schon gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. Meine Knie gaben nach – diesmal nicht aus Erschöpfung, sondern vor Panik. Vor der Wahrheit, die sich nicht mehr zurückdrängen ließ.
Langsam zog ich meinen Slip zurecht, als wäre er etwas Zerbrechliches. Fast ehrfürchtig, wie eine letzte Handlung nach einem Ritual, das man nicht mehr ungeschehen machen kann. Dann schloss ich die Augen – nur für einen Moment – und in meinem Inneren formte sich ein einziges, brennendes Wort. Ein leiser Schnitt, der durch meine Brust fuhr:
„Was… habe ich getan?“
Ich weiß nicht mehr, wie ich die Tür geöffnet hatte. Auch nicht, wie ich es schaffte, mein Kleid wieder über die Schenkel zu ziehen. Meine Finger zitterten noch immer, während ich die Treppe hinunterging – zu schnell, zu schief, zu laut. Jeder Schritt fühlte sich an, als müsste ich mich selbst hinter mir herziehen, als trüge ich eine Last, die niemand sehen durfte.
Meine Knie fühlten sich an wie aus Gummi, fremd, unsicher, und mein Becken vibrierte noch – ein Nachhall dessen, was Silke in mir hinterlassen hatte. Ich versuchte, diesen Körper wieder zu bewohnen, ihn zurückzuerobern, aber er gehörte mir nicht mehr ganz.
Und dann stand ich im Flur.
Zwischen Kartoffelsalat, Schuhablage und Sommergeruch. Und ich sah sie.
Silke. Mit Jochen. In einer Umarmung.
Sein Rücken war mir zugewandt. Ihre Arme lagen um ihn – nicht eng, nicht aufdringlich. Nur ein kurzer, warmer Druck. Vertraut. Wie zwischen Geschwistern, die sich lange kennen. Die wissen, was sie aneinander haben. Oder verloren haben.
„Komm gut nach Hause, großer Bruder“, hörte ich sie sagen. Ihre Stimme war weich, ihr Lächeln beinahe liebevoll – so harmlos, so friedlich, dass mir übel wurde. Sie fügte noch hinzu, dass sie sich die Tage wegen des Laptops melden würde, und während sie sprach, streichelte sie ihm zum Abschied über den Rücken. Eine Geste wie aus einem Werbespot – so beiläufig, so einstudiert, so falsch.
Dann drehte sie sich um. Und sah mich.
Ein Blick – kurz, aber treffsicher. Ihr Lächeln blieb. Es war nicht spöttisch. Nicht entschuldigend. Es war einfach da. Wie eine Maske, die sie nicht ablegte. Oder nie abnehmen musste.
Und genau in diesem Moment traf es mich – mit voller Wucht, ohne Vorwarnung, ohne Gnade.
Ein Echo rauschte durch meinen Unterleib. Nicht körperlich – sondern wie ein Nachhall. Ihre Zunge. Ihre Macht. Ihr Wille. Sie war da gewesen. Eben noch. In mir. Und jetzt? Jetzt stand sie hier. Harmlos. Beherrscht. Unberührt.
Ich schwankte – nicht sichtbar, aber innerlich. Ein feiner Riss zog sich durch mein Becken. Lust. Ekel. Erregung. Widerstand. Mein Körper zog sich zusammen, als wollte er sich erinnern. Und mein Verstand? Der schrie.
Wie konntest du ihn umarmen? Wie konntest du ihm ins Gesicht sehen – ihm, deinem Bruder – nachdem du eben noch unter meinem Kleid warst?
Ich fühlte mich ausgenutzt. Nicht verletzt. Nicht geschlagen. Sondern... instrumentalisiert. Als wäre ich nur ein Teil ihres Spiels. Ein Test. Ein Beweis. Oder bloß eine Laune.
War das alles ein Experiment gewesen? Oder ernst? Ich wusste nicht, ob ich schreien oder kommen wollte. Mein ganzer Körper war widersprüchlich geladen – aufgeladen mit etwas, das ich nicht greifen konnte.
Ich sah, wie Silke sich abwandte. Wie sie leicht den Kopf schüttelte. Als hätte sie mich vergessen. Als wäre nichts gewesen. Als hätte sie mich gerade nicht mit ihrer Zunge zum Schweigen gebracht.
Jochen drehte sich zu mir um. Lächelte.
„Alles gut, Süße?“
Ich nickte. Zu schnell. Zu fest. Als müsste ich etwas bestätigen, das ich nicht fühlte. Ich war nicht mehr auf der Treppe. Nicht mehr in diesem Haus. Ich war wieder oben. In dem kleinen, staubigen Bett. In diesem Moment. In diesem Verrat.
Und mein Körper – meine Schenkel – zuckten ganz leicht. Ein Echo. Leise. Erbärmlich. Wahr.
Von ihr.
Von uns.
Von dem, was nie hätte sein dürfen – und doch für immer war.
Ich hatte seine Hand genommen, ohne ein Wort zu sagen. Er sah mich kurz an – überrascht, aber nicht misstrauisch. Kein Verdacht in seinen Augen, nur ein leises Staunen, wie bei einem Kind, dem jemand unerwartet Zuneigung zeigt. Dann ließ er sich von mir führen.
Wir gingen schweigend über das Gras. Die Stimmen der anderen klangen noch hinter uns, gedämpft wie aus einer anderen Welt. Das Licht war weich geworden, als hätte der Himmel selbst beschlossen, nicht mehr so genau hinzusehen.
Ich führte ihn hinter die alte Scheune. Dort, wo das Holz längst grau geworden war, wo ein Apfelbaum Schatten warf, und wo wir früher – damals, als wir noch ein Wir waren – Zärtlichkeit gegen die Welt getauscht hatten.
Ich stellte mich vor ihn. Nah. Nah genug, dass er meine Hitze spüren konnte. Die Spannung in mir. Die Bitte. Oder vielleicht der Zwang, etwas zu retten, das längst zu kippen begann.
Ich sagte nichts. Kein erklärendes Wort, kein Hinweis auf das Warum. Nur meine Hände bewegten sich. Sie fanden seinen Gürtel, öffneten ihn langsam. Nicht aus Begierde. Sondern wie eine Prüfung – ob ich es noch konnte. Ob ich überhaupt noch etwas in der Hand hatte, das mich zurückholte.
Er küsste mich. Sanft. Zärtlich. Fast schüchtern. Wie jemand, der nicht mehr sicher ist, ob er noch darf. Ich ließ es zu. Nicht, weil ich es wollte. Sondern weil ich das Gefühl hatte, dass ich es musste.
Meine Beine zitterten, aber nicht vor Lust. Sie zitterten vor Anstrengung – dem Versuch, etwas heil zu machen, das längst zersplittert war. Etwas zurückzuholen, was schon in dem Moment verloren ging, in dem sie mich am Handgelenk berührte.
Er streichelte meinen Rücken. Flach. Vertraut. Zu vertraut. Wie jemand, der nicht mehr sucht, sondern nur noch weiß, wo er greifen muss.
Ich lehnte meine Stirn an seine Schulter, als sein Körper in meinen drang. Es geschah langsam. Zögerlich. Nicht aus Trieb, sondern aus Liebe. Aus seiner Liebe. Nicht meiner.
Und ich – ich presste die Lippen zusammen. Nicht, weil ich mich vor Lust verzehren wollte. Sondern um meine Gedanken zu bremsen, bevor sie zu laut wurden.
Aber sie kam. Nicht mit Lärm. Nicht mit Worten. Nur als Bild. Als Schatten. Als Echo.
Silke.
Sie war da. In mir. Noch immer. Ihre Präsenz war nicht verschwunden. Sie kniete vor meinem inneren Auge, lautlos, fordernd, eindeutig. Ich versuchte, sie zu verdrängen. Mit jedem Stoß. Mit jeder Bewegung. Ich versuchte, Jochen zu spüren. Zu lieben. Ihn zu retten. Oder mich. Oder uns.
Ich schloss die Augen. Nicht aus Erregung. Aus Schuld. Und flüsterte mir selbst einen Gedanken zu, wie ein Mantra:
„Du musst das tun. Du schuldest ihm das. Du darfst dich nicht verlieren.“
Ich hielt ihn fester. Fester als sonst. Als wollte ich mich selbst daran erinnern, wie sich Treue anfühlt. Oder wenigstens so tun, als wäre sie noch in mir.
Und dann war es vorbei. Schnell. Leise. Ein einziger Atemzug. Ein Satz. Ein „Danke, dass du da bist.“
Er küsste mich auf die Stirn.
Und ich lächelte.
Nicht echt. Nicht falsch. Nur... geordnet.
Er war eingeschlafen. Noch im Auto. Der Kopf zur Seite gefallen, der Mund halb geöffnet, ein leises Schnarchen in der Stille, die zwischen uns wuchs wie ein Raum ohne Licht. Der Geruch von Bier lag auf seinen Lippen, gemischt mit der Müdigkeit eines Tages, der für ihn nur ein Fest gewesen war. Ich schwieg. Ganz leise. Kein Satz. Kein „War schön mit dir“. Kein Händedruck. Nur sein Atem, flach und rhythmisch, wie ein Punkt hinter einem Satz, den ich nicht mehr schreiben wollte.
Ich parkte. Stieg aus. Öffnete seine Tür. Zog ihn mit Mühe auf die Beine. Er war schwer, träge – nicht betrunken, nur… verloren. Ich führte ihn hinein. Nicht ins Bett. Auf das Sofa. Unser Bett war kein Ort mehr für ihn. Es war nicht böse gemeint. Nur konsequent. Dort passte er nicht mehr hin.
Ich deckte ihn zu. Nicht fürsorglich. Nicht zärtlich. Eher automatisch. Wie man ein Möbelstück schützt. Oder einen verletzten Hund. Nicht aus Liebe. Aus Gewohnheit.
Dann ging ich in mein Zimmer. Zog mich aus. Langsam. Ohne Bedeutung. Nicht sinnlich. Nur müde. Meine Bewegungen waren leer, als gehörten sie jemand anderem. Ich legte mich ins Bett, zog die Decke bis zur Brust, ließ das Licht aus – aber in meinem Kopf war alles grell, überbelichtet, zu laut.
Ich lag da. Auf dem Rücken. Starr. Reglos. Die Luft im Raum war still. Zu still. Ich wusste nicht, was ich denken durfte. Oder fühlen sollte. Ich war da. Aber nicht bei mir.
Und meine Hand… wanderte.
Nicht geplant. Nicht bewusst. Nur geführt von etwas, das tiefer lag als Wille. Dorthin, wo ich mich noch spüren konnte. Zwischen meinen Beinen war es warm. Feucht. Nicht von heute. Von ihr. Von Silke.
Ich atmete flach. Und als meine Finger die Stelle berührten, an der sie gewesen war, zuckte ich. Nicht vor Erregung. Vor Erinnerung. Mein ganzer Körper wurde zu einem Speicher ihrer Gegenwart.
Und dann… war sie da.
Vor meinem inneren Auge. Silke. Kniend. Nackt. Ihre Zunge an mir. Ihr Blick fordernd. Lautlos. Perfekt. Aber diesmal war sie nicht allein.
Hinter ihr: Jochen.
Er stand da. Starr. Sein Blick kalt. Keine Frage in seinen Augen. Nur Urteil. Verachtung. Wut. Ekel.
Er sagte nichts. Er musste nicht. Ich spürte es. Seine Abscheu brannte in meinem Nacken. Ich versuchte, die Augen zu schließen. Doch er blieb. Silke leckte weiter – und ich… ich war dazwischen. Gehetzt. Offen. Gefangen.
Meine Finger bewegten sich. Wie ein Flehen. Ein Ruf nach Erlösung. Ein Wunsch, dass jemand mich befreien würde – von mir selbst.
Ich war feucht. Bereit. Aber nicht für mich. Nicht für ihn.
Für sie.
Und sein Blick – er bohrte sich in mich wie ein Messer.
Ich kam nicht. Ich konnte nicht. Nicht so. Nicht unter diesem Blick. Ich zog die Hand zurück. Langsam. Widerwillig. Legte sie auf mein Herz. Es schlug zu schnell. Unruhig. Wie ein Tier, das weiß, dass es bald entdeckt wird.
Ich war nackt. Aber nicht frei. Ich war still. Aber nicht sicher.
Ich war allein. Mit mir. Mit Silke. Mit Jochen. Und keinem von ihnen konnte ich mehr in die Augen sehen.
Als ich aufwachte, war das Bett leer. Kein Rascheln neben mir, kein Atemzug, der mich hätte stören können. Nur der Geruch abgestandener Nachtluft hing im Raum, schwer, als hätte er sich festgesetzt in den Ritzen des Fensters, im Stoff der Vorhänge. Und da war ein feuchter Fleck im Laken, den ich nicht einordnen wollte. Nicht jetzt. Nicht mehr.
Ich stand auf. Langsam. Jeder Handgriff fühlte sich an wie ein Echo von gestern. Die Bewegungen meiner Glieder trugen Spuren von dem, was ich zu vergessen versuchte. Oder vielleicht behalten wollte. Ich wusste es nicht.
In der Küche saß er schon. Im T-Shirt, die Haare zerzaust, mit dem Rücken zur Tür. Vor ihm dampfte der Kaffee, daneben lag eine Aspirin-Tablette wie ein stilles Eingeständnis. Er rieb sich die Schläfen, stöhnte leise.
„Boah… ich glaub, ich hab gestern zu viel Uso mit Onkel Klaus gesoffen“, murmelte er, die Stimme rau, ohne Wärme. Nur müde. Und seltsam fern.
Ich sagte nichts. Kein Guten Morgen. Kein Lächeln. Ich ging zum Schrank, nahm mir eine Tasse, goss Kaffee ein. Jedes Geräusch – das Klirren der Tasse, das Gluckern der Kanne – ließ mich innerlich zusammenzucken. Als wäre der ganze Raum aus Porzellan und ich zu grob für diese Welt geworden.
Er sprach weiter, beiläufig, als wären wir zwei Fremde, die sich zufällig in einer Ferienwohnung begegneten.
„Sag mal… hab ich Silke versprochen, dass ich ihr ’nen neuen Laptop besorg? Ich hab so einen Filmriss. Null Erinnerung an die letzte Stunde.“
Ich starrte in meine Tasse. Die Oberfläche des Kaffees war ruhig. Fast spiegelglatt. Aber darunter brodelte es.
Keine Erinnerung. Nicht an die Scheune. Nicht an mein Schweigen. Nicht an meine zitternden Beine. Nicht an den Moment, in dem ich mich ihm hingegeben hatte, weil ich glaubte, dass es vielleicht ein Anfang sein könnte. Ein Versuch. Ein Wir. Vielleicht sogar ein Kind.
Aber da war nichts. Kein Nachklang. Kein Funke. Nur ein Filmriss und ein billiger Witz über Uso mit Onkel Klaus.
Ich setzte mich. Gegenüber. Unsere Knie hätten sich berühren können. Doch zwischen uns war eine Kälte, die größer war als der Tisch.
„Nein“, sagte ich leise. „Du hast nichts versprochen.“
Er nickte. Langsam. Dankbar. Wie jemand, der froh ist, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ohne zu merken, wie sehr ich dabei zerbrach.
Ich trank einen Schluck. Der Kaffee war zu stark. Oder ich zu weich.
In meinem Bauch war nur Leere. Kein Kind. Kein Beginn. Kein Morgen. Nur ein Vakuum. Stille. Komplett.
Und doch spürte ich noch immer Silkes Blick. Ihre Zunge. Ihre Stimme. Das Flüstern, das in mir brannte und nicht weichen wollte:
„Schreib mir. Oder schweig. Und es ist nie passiert.“
Ich hatte geschwiegen.
Aber es war passiert.
Und er – der Mensch, den ich liebe – erinnerte sich nicht einmal, dass ich ihn geliebt hatte.
Ich hatte es nicht geplant. Nicht überlegt. Es war kein taktischer Zug, keine Falle, kein Wunsch nach Enthüllung. Es kam einfach. In dem Moment, als Jochen gerade die Spülmaschine einräumte, fragte ich ihn – beinahe beiläufig, so leise, dass es mir selbst fremd vorkam:
„Wie ist eigentlich Silkes Verhältnis zu eurem Vater?“
Er hielt kurz inne. Ein winziger Ruck ging durch seine Schulter, kaum sichtbar, aber spürbar. Etwas in ihm zog sich zurück, vielleicht Erinnerung, vielleicht Schmerz. Dann schloss er die Klappe der Maschine mit einem dumpfen Geräusch, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und sah nicht mich an, sondern an mir vorbei – in die Ecke, wo der Brotkorb stand.
„Kompliziert“, sagte er schließlich. Dann ein kurzes Lachen. Trocken. Ohne jede Spur von Heiterkeit.
„Unser Vater hat sie verstoßen. Damals… als er sie knutschend mit Paula in der Scheune erwischt hat. Ich glaub, sie war gerade achtzehn. Er ist völlig ausgerastet. Hat geschrien, ihr Sachen aus dem Fenster geworfen und gebrüllt, er hätte keine Tochter mehr.“
Ich schwieg. Wartete nur. Mein Puls pochte in den Ohren, als würde mein Körper mehr wissen als mein Kopf.
„Das erste Jahr war die Hölle. Vor allem für unsere Mutter. Sie hat so gelitten. Aber sie hat sich durchgesetzt. Hat gesagt, Silke muss zu den Familienfeiern kommen dürfen – egal, was war.“
Ich schluckte. Meine Stimme war leiser, als ich sie beabsichtigt hatte: „Und Heinz?“
Jochen zuckte mit den Schultern, als sei es nichts weiter als ein alter, abgelegter Mantel.
„Er hat irgendwann gesagt, okay – sie darf kommen. Aber er redet nie wieder ein Wort mit ihr. Nicht, solange sie… na ja… Sex mit Frauen hat.“
Ich nickte. Nicht aus Verständnis. Sondern weil ich nichts anderes tun konnte, ohne mich zu verraten.
„Und Silke?“, flüsterte ich, fast gegen meinen Willen.
„Hat ihn ernst genommen“, sagte Jochen. „Bringt seitdem regelmäßig Paula mit. Die sind längst kein Paar mehr. Aber sie liebt es, ihn zu provozieren. Und er ignoriert sie. Konsequent. Genau so, wie sie es will.“
Dann lächelte er plötzlich. Sanft. Ehrlich. Fast stolz.
„Ich find’s übrigens schön, dass du so viel Kontakt zu ihr hast. Sie hat mir erzählt, ihr schreibt viel. Berufliche Weiterbildung und so…“
Ich starrte ihn an. Für einen Moment war mir übel. Nicht vom Kaffee. Von dieser Lüge. Dieser verdammten, glatten Lüge.
Silke hatte ihn belogen. Ihm ins Gesicht. Ohne zu zucken. „Weiterbildung.“
Ich hätte fast gelacht. Laut. Hysterisch.
Wir schrieben nicht. Wir glitten. Wir flüsterten. Wir kamen. Wortlos.
Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Erregung. Verwirrung. Wut. Ekel.
Und dann war da wieder das Bild. Es war nicht mehr nur Erinnerung. Es war Gegenwart. Wie Silke zwischen meinen Schenkeln lag. Ihre Zunge. Ihr Blick. Ihre Finger – nicht haltend, nicht fordernd. Nur... da. Und ich? Ich war darin verloren.
Doch dann kam das andere Bild. Das, das alles überlagerte. Nicht Fiktion. Nicht Traum.
Heinz.
Wie er in die Tür tritt. In dieses Zimmer. In dieses Bett. Seine Tochter. Mich. Meine Beine offen. Sein Blick.
Mir wurde kalt. Nicht von außen. Von innen.
Was wäre gewesen, wenn ausgerechnet er uns erwischt hätte?
Der Mann, der sie einst verstoßen hatte. Der Mann, der jetzt wieder Torte schneidet, als wäre nichts gewesen. Als wäre Zeit genug vergangen, um Erinnerung zu glätten.
Ich schloss die Augen. Einen Moment zu lang. Und da war sie wieder.
Silke.
Meine Schuld. Mein Feuer. Mein Schwindel.
Und ich fragte mich, ob ich ihr schreiben sollte. Oder ihm. Oder niemandem.
Denn alles, was gerade in mir tobte, passte nicht mehr in diese Küche. Nicht zu diesem Mann. Nicht in diese Familie.
Nicht in mich.
Ich hatte das Handy schon fünfmal in der Hand. Und genauso oft wieder hingelegt. Manchmal nur für Sekunden. Manchmal für Stunden. Jede Bewegung war eine Möglichkeit. Jedes Nichtstun eine Kapitulation.
Ich war nicht mehr bei mir. Nicht in dieser Küche, nicht im Gespräch mit Jochen, nicht in diesem Abend, der sich wie eine zu schwere Decke über alles legte. Zu weich, zu still, zu spät.
Ich hatte mich umgezogen. Nicht für ihn. Nicht für mich. Für die Normalität. Aber sie passte nicht mehr. Ich fühlte mich fremd in ihr, als hätte ich ein Kostüm übergestreift, das längst zu klein war.
Ich saß auf der Couch. Die Beine untergeschlagen. Der Rücken gerade. Mein Körper ruhig. Meine Gedanken laut.
Ich war wütend. Auf ihn. Auf seine Vergesslichkeit. Auf seinen leeren Blick. Auf das, was er nicht gesehen hatte. Auf das, was er nicht gespürt hatte. Wir hatten miteinander geschlafen – das erste Mal seit der Fehlgeburt. Ich hatte gehofft, es würde etwas zurückbringen. Ein Wir. Ein Neubeginn. Ein leiser Wille, sich wiederzufinden.
Und er? Er erinnerte sich nicht einmal daran, dass er in mir gewesen war.
Und dann war da Silke.
Wie ein Fehler, der sich anfühlte wie Wahrheit.
Ich dachte an ihre Zunge. An ihre Finger. An diesen Moment, als sie einfach vor mir kniete – ohne ein Wort, ohne eine Frage, ohne jede Erklärung. Nur mit sich. Und mit mir.
Ich war feucht, bevor ich es bemerkte. Schon wieder. Nicht wegen Jochen. Nicht wegen gestern. Wegen ihr.
Ich ließ meine Hand auf meinem Bauch ruhen. Nur einen Moment. Nur, um mich zu spüren. Um mir selbst zu beweisen, dass ich noch da war.
Und dann wanderte sie. Automatisch. Still. Zwischen meine Beine. Durch Stoffschichten hindurch. Meine Finger fanden jenen Punkt, den nur sie je so genau getroffen hatte. Nicht gesucht. Nur gefunden.
Ich presste meine Oberschenkel zusammen. Nicht zum Schutz. Zur Verstärkung. Der Druck machte mich ehrlicher.
Ich atmete tief. Meine Lippen öffneten sich leicht. Kein Laut. Nur dieses leise Vibrieren in meiner Kehle. Und ich wusste – ohne Zweifel:
Das hier… war kein Zufall mehr.
Ich hatte sie nicht nur gespürt. Ich hatte sie gewollt. Ich wollte sie noch immer.
Ich nahm das Handy. Wieder. Öffnete unseren Chat. Wieder.
Ihr letzter Satz stand da. Glasklar. Unverrückbar.
„Wenn du mehr willst, schreib mir. Oder schweig. Und es ist nie passiert.“
Ich starrte ihn an. Als könnte ich darin erkennen, wer ich war. Wer ich gerade wurde. Oder schon geworden war.
Ich wollte schreiben. Nur ein Wort. Ein Hauch. Ein „Ich“. Oder „Du“. Oder gar nichts, nur drei Punkte.
Aber ich wusste:
Wenn ich es tue – wenn ich ihr antworte – dann gibt es kein Zurück.
Kein „Ich wusste nicht, was ich tat.“
Kein „Es war nur ein Moment.“
Kein „Es war ein Versehen.“
Dann ist es Entscheidung.
Dann ist es Wahl.
Dann ist es… wir.
Seit dieser einen Familienfeier war alles anders geworden. Oder, um präziser zu sein: Ich war es. Nicht die Welt hatte sich verändert, nicht die Menschen um mich herum – sondern mein Inneres, mein Blick auf alles, was vorher so fest, so selbstverständlich schien.
Dabei war es so harmlos gewesen, fast klischeehaft in seiner ländlichen Unbeschwertheit – laut, chaotisch, herzlich. Die alte Scheune, das überladene Buffet, Kinder mit Strohhüten, die kreischend durchs Gras rannten. Jochens Mutter hatte, wie jedes Jahr, viel zu viel gekocht. Paula tanzte barfuß über die Wiese. Und Silke?
Silke war... anders. Rätselhaft. Unnahbar. Ich verstand ihr Verhalten nicht. Noch am Abend zuvor hatte sie mir eine Nachricht geschickt, in der sie sich auf mich freute. Sie sprach von einer Überraschung, die sie für mich bereithalte – ein einzelner Satz, ein kleines Emoji, kaum mehr als ein Hauch von Andeutung, und doch war es da, dieses Funkeln zwischen den Zeilen. Ich hatte mit allem gerechnet, wirklich mit vielem. Aber nicht mit Schweigen.
Sie hatte mich den ganzen Tag über kaum eines Blickes gewürdigt. Kein Flirt, kein verstecktes Lächeln, kein beiläufiges Wort – nichts. Nur dieses eine Mal, als wir beide an der Kuchentheke standen. Sie reichte mir ein Stück Baiser-Torte, unsere Finger berührten sich für den Bruchteil einer Sekunde, und ich glaubte – wie so oft – es mir nur einzubilden. Die Bedeutung. Das Knistern. Die Erinnerung.
Doch erst, als sie ging, kam sie zu mir.
Es war spät, der Himmel über uns wirkte milchig, als hätte der Tag seine Farbe verloren. Ich war gerade auf dem Weg zur Toilette im Haupthaus, die Schritte gedankenverloren, der Blick gesenkt, als plötzlich ihre Hand nach meinem Handgelenk griff. Kein fester Griff, kein Ruck – nur ein sicheres, entschlossenes Halten, das keinen Zweifel ließ.
Sie sagte nichts. Kein Lächeln, keine Begrüßung. Nur dieser Blick, der nicht fragte, sondern wusste.
Schweigend zog sie mich mit sich durch den Flur. Die alten Dielen unter unseren Füßen knarzten leise, fast vertraut, als wollten sie nichts verraten. Ich wusste sofort, wohin sie wollte. Ich kannte diesen Weg, diese Schritte, diese Tür.
Ihr altes Kinderzimmer.
Ein Raum, in dem die Zeit stehen geblieben war. Staub lag auf den Möbeln, Poster aus den Zweitausendzehnern klebten schief an den Wänden, das Bett war zu klein für uns beide, bedeckt von einem lila Überwurf, der wie ein vergessenes Geheimnis wirkte. Es roch nach Holz, nach Staub und nach den Sommern vergangener Jahre – wie ein Archiv ihrer Jugend.
Sie schloss die Tür hinter uns. Langsam. Ohne Hast.
Ich wollte etwas sagen – ein Wort, eine Frage, eine Geste. Doch bevor ich dazu kam, war sie bereits auf den Knien. Kein Zögern. Kein fragendes „Darf ich?“. Nur dieser eine, tiefe Blick, der alles sagte, was ich nicht auszusprechen wagte. Ein stilles Versprechen, klar und bedingungslos.
Sie hob mein Kleid an, schob meinen Slip zur Seite – mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erschreckte und zugleich beruhigte.
Und dann... war sie da.
Ihre Zunge war warm. Nicht fordernd. Nicht eilig. Sie war einfach da. Eine Bewegung wie ein Gebet auf meiner Haut, wie eine Antwort auf eine Frage, die ich nie laut gestellt hatte. Eine Berührung, die nicht nahm, sondern schenkte.
Ich klammerte mich an der Fensterbank fest. Das kühle Glas vibrierte unter meiner Hand, als wollte es mein Zittern auffangen und mir Halt geben. Meine Knie gaben nach, wurden weich, doch mein Rücken blieb aufrecht – fast trotzig, als würde ich mich gegen das, was geschah, auflehnen müssen, um es ganz zu begreifen.
Meine Finger krallten sich in die Holzrahmen, mein Kopf fiel nach hinten, mein Haar streifte meinen Nacken – ein feiner Reiz, kaum spürbar, und doch zu viel in seiner Zartheit.
Ich strich es zur Seite. Langsam. Nicht, um besser sehen zu können, sondern als würde ich mir selbst eine Bühne bereiten für das, was mich gleich durchfluten würde.
Ich hatte die Augen geschlossen – nicht aus Scham. Nicht aus Angst. Sondern aus dem Wunsch heraus, ganz bei mir zu bleiben. Oder bei ihr. In der Dunkelheit, in der nur wir beide existierten.
Und dann kam ich.
Nicht plötzlich. Nicht wie ein Blitz. Es war eine Welle. Sanft erst, dann fordernd, schließlich überwältigend. Sie streichelte, sie flutete, sie brach. Kein Laut verließ meine Lippen, aber mein Körper schrie. Meine Schenkel spannten sich an, mein Becken hob sich ihr entgegen – jenseits jeder bewussten Entscheidung.
Es war kein Drang, kein Trieb – es war ein Geschenk. Ein tiefes, leises, absolutes Beben.
Ich atmete aus. Langsam. Und in diesem einen Ausatmen lag alles, was ich war. Alles, was sie mir gegeben hatte. Alles, was zwischen uns stand – und fiel.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand sie bereits an der Tür. Noch immer kein Lächeln. Nur dieser Blick, der alles in sich trug – Distanz, Nähe, Klarheit.
„Wenn du mehr willst, schreib mir. Oder schweig. Und es ist nie passiert.“
Dann ging sie.
Und ich blieb zurück. Allein in diesem still gewordenen Kinderzimmer, in dem nichts mehr so war wie zuvor. Meine Beine zitterten noch immer, der feuchte Stoff meines Slips klebte an mir wie ein stummes Geständnis, das sich nicht mehr abstreifen ließ. Zwischen meinen Oberschenkeln brannte es – kein Schmerz, sondern ein Echo, das noch in mir pulsierte, ein Nachklang ihrer Zunge, der nicht weichen wollte.
Ich legte die Hand auf die Fensterbank, nicht weil ich das Gleichgewicht verlor, sondern weil ich nicht wusste, wohin mit mir. Mein Körper hatte einen Ort gefunden, den mein Verstand noch suchte. Mein Brustkorb hob und senkte sich flach, unruhig – als wäre da ein inneres Tier, das nicht verstand, was gerade geschehen war.
Ich fuhr mir durchs Haar, doch meine Finger zitterten dabei. Auf meinen Lippen spürte ich ein leichtes Brennen – ich hatte mir unbewusst auf die Innenseite gebissen, um keinen Laut von mir zu geben. Ich wollte schweigen, nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht. Doch selbst jetzt war ihr Geschmack noch auf mir – salzig, warm, fordernd und vertraut wie ein Geheimnis, das sich selbst nicht schämt.
Ich hätte es nie erwartet. Nicht von ihr. Nicht hier. Und nicht auf diese Weise.
Doch dann – ganz plötzlich, wie ein Schnitt – kam er. Der Gedanke.
Jochen.
Mein Atem stockte. Nicht vor Lust. Vor Scham. Vor der plötzlichen Erkenntnis, dass ich ihn betrogen hatte – nicht in Gedanken, nicht mit einem Chat, nicht mit einem Spiel. Ich hatte ihn mit meinem Körper betrogen. Mit allem, was ich war.
Und ausgerechnet mit ihr. Mit seiner Schwester.
Ich taumelte zurück, zwei Schritte, fast gegen das alte Regal, das quietschte, als würde es protestieren. Mein Blick fiel auf das schmale Kinderbettgestell in der Ecke, auf die verblichene „Bibi Blocksberg“-Bettwäsche, die über Jahre hinweg gewaschen worden war, bis sie fast durchsichtig wurde. Ein Ort, der früher Geborgenheit bedeutete, war nun entweiht. Er trug jetzt eine Spur von mir. Oder von uns.
Was, wenn uns jemand gehört hatte? Das Knarzen der Dielen, mein schwerer Atem, ein Schatten unter der Tür? Was, wenn Paula etwas gesehen hatte? Oder – noch schlimmer – Jochens Mutter?
Mein Herz begann zu rasen. Die Hitze der Lust war verflogen, hatte Platz gemacht für ein neues, dumpfes Beben: Angst. Nicht Reue. Sondern das nackte, schmerzhafte Wissen, dass ich entdeckt werden könnte. Nicht weil ich es bereute. Sondern weil ich nicht wusste, was es über mich sagte.
Ich sah zur Tür. Sie war nur angelehnt. War sie das vorher auch schon gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. Meine Knie gaben nach – diesmal nicht aus Erschöpfung, sondern vor Panik. Vor der Wahrheit, die sich nicht mehr zurückdrängen ließ.
Langsam zog ich meinen Slip zurecht, als wäre er etwas Zerbrechliches. Fast ehrfürchtig, wie eine letzte Handlung nach einem Ritual, das man nicht mehr ungeschehen machen kann. Dann schloss ich die Augen – nur für einen Moment – und in meinem Inneren formte sich ein einziges, brennendes Wort. Ein leiser Schnitt, der durch meine Brust fuhr:
„Was… habe ich getan?“
Ich weiß nicht mehr, wie ich die Tür geöffnet hatte. Auch nicht, wie ich es schaffte, mein Kleid wieder über die Schenkel zu ziehen. Meine Finger zitterten noch immer, während ich die Treppe hinunterging – zu schnell, zu schief, zu laut. Jeder Schritt fühlte sich an, als müsste ich mich selbst hinter mir herziehen, als trüge ich eine Last, die niemand sehen durfte.
Meine Knie fühlten sich an wie aus Gummi, fremd, unsicher, und mein Becken vibrierte noch – ein Nachhall dessen, was Silke in mir hinterlassen hatte. Ich versuchte, diesen Körper wieder zu bewohnen, ihn zurückzuerobern, aber er gehörte mir nicht mehr ganz.
Und dann stand ich im Flur.
Zwischen Kartoffelsalat, Schuhablage und Sommergeruch. Und ich sah sie.
Silke. Mit Jochen. In einer Umarmung.
Sein Rücken war mir zugewandt. Ihre Arme lagen um ihn – nicht eng, nicht aufdringlich. Nur ein kurzer, warmer Druck. Vertraut. Wie zwischen Geschwistern, die sich lange kennen. Die wissen, was sie aneinander haben. Oder verloren haben.
„Komm gut nach Hause, großer Bruder“, hörte ich sie sagen. Ihre Stimme war weich, ihr Lächeln beinahe liebevoll – so harmlos, so friedlich, dass mir übel wurde. Sie fügte noch hinzu, dass sie sich die Tage wegen des Laptops melden würde, und während sie sprach, streichelte sie ihm zum Abschied über den Rücken. Eine Geste wie aus einem Werbespot – so beiläufig, so einstudiert, so falsch.
Dann drehte sie sich um. Und sah mich.
Ein Blick – kurz, aber treffsicher. Ihr Lächeln blieb. Es war nicht spöttisch. Nicht entschuldigend. Es war einfach da. Wie eine Maske, die sie nicht ablegte. Oder nie abnehmen musste.
Und genau in diesem Moment traf es mich – mit voller Wucht, ohne Vorwarnung, ohne Gnade.
Ein Echo rauschte durch meinen Unterleib. Nicht körperlich – sondern wie ein Nachhall. Ihre Zunge. Ihre Macht. Ihr Wille. Sie war da gewesen. Eben noch. In mir. Und jetzt? Jetzt stand sie hier. Harmlos. Beherrscht. Unberührt.
Ich schwankte – nicht sichtbar, aber innerlich. Ein feiner Riss zog sich durch mein Becken. Lust. Ekel. Erregung. Widerstand. Mein Körper zog sich zusammen, als wollte er sich erinnern. Und mein Verstand? Der schrie.
Wie konntest du ihn umarmen? Wie konntest du ihm ins Gesicht sehen – ihm, deinem Bruder – nachdem du eben noch unter meinem Kleid warst?
Ich fühlte mich ausgenutzt. Nicht verletzt. Nicht geschlagen. Sondern... instrumentalisiert. Als wäre ich nur ein Teil ihres Spiels. Ein Test. Ein Beweis. Oder bloß eine Laune.
War das alles ein Experiment gewesen? Oder ernst? Ich wusste nicht, ob ich schreien oder kommen wollte. Mein ganzer Körper war widersprüchlich geladen – aufgeladen mit etwas, das ich nicht greifen konnte.
Ich sah, wie Silke sich abwandte. Wie sie leicht den Kopf schüttelte. Als hätte sie mich vergessen. Als wäre nichts gewesen. Als hätte sie mich gerade nicht mit ihrer Zunge zum Schweigen gebracht.
Jochen drehte sich zu mir um. Lächelte.
„Alles gut, Süße?“
Ich nickte. Zu schnell. Zu fest. Als müsste ich etwas bestätigen, das ich nicht fühlte. Ich war nicht mehr auf der Treppe. Nicht mehr in diesem Haus. Ich war wieder oben. In dem kleinen, staubigen Bett. In diesem Moment. In diesem Verrat.
Und mein Körper – meine Schenkel – zuckten ganz leicht. Ein Echo. Leise. Erbärmlich. Wahr.
Von ihr.
Von uns.
Von dem, was nie hätte sein dürfen – und doch für immer war.
Ich hatte seine Hand genommen, ohne ein Wort zu sagen. Er sah mich kurz an – überrascht, aber nicht misstrauisch. Kein Verdacht in seinen Augen, nur ein leises Staunen, wie bei einem Kind, dem jemand unerwartet Zuneigung zeigt. Dann ließ er sich von mir führen.
Wir gingen schweigend über das Gras. Die Stimmen der anderen klangen noch hinter uns, gedämpft wie aus einer anderen Welt. Das Licht war weich geworden, als hätte der Himmel selbst beschlossen, nicht mehr so genau hinzusehen.
Ich führte ihn hinter die alte Scheune. Dort, wo das Holz längst grau geworden war, wo ein Apfelbaum Schatten warf, und wo wir früher – damals, als wir noch ein Wir waren – Zärtlichkeit gegen die Welt getauscht hatten.
Ich stellte mich vor ihn. Nah. Nah genug, dass er meine Hitze spüren konnte. Die Spannung in mir. Die Bitte. Oder vielleicht der Zwang, etwas zu retten, das längst zu kippen begann.
Ich sagte nichts. Kein erklärendes Wort, kein Hinweis auf das Warum. Nur meine Hände bewegten sich. Sie fanden seinen Gürtel, öffneten ihn langsam. Nicht aus Begierde. Sondern wie eine Prüfung – ob ich es noch konnte. Ob ich überhaupt noch etwas in der Hand hatte, das mich zurückholte.
Er küsste mich. Sanft. Zärtlich. Fast schüchtern. Wie jemand, der nicht mehr sicher ist, ob er noch darf. Ich ließ es zu. Nicht, weil ich es wollte. Sondern weil ich das Gefühl hatte, dass ich es musste.
Meine Beine zitterten, aber nicht vor Lust. Sie zitterten vor Anstrengung – dem Versuch, etwas heil zu machen, das längst zersplittert war. Etwas zurückzuholen, was schon in dem Moment verloren ging, in dem sie mich am Handgelenk berührte.
Er streichelte meinen Rücken. Flach. Vertraut. Zu vertraut. Wie jemand, der nicht mehr sucht, sondern nur noch weiß, wo er greifen muss.
Ich lehnte meine Stirn an seine Schulter, als sein Körper in meinen drang. Es geschah langsam. Zögerlich. Nicht aus Trieb, sondern aus Liebe. Aus seiner Liebe. Nicht meiner.
Und ich – ich presste die Lippen zusammen. Nicht, weil ich mich vor Lust verzehren wollte. Sondern um meine Gedanken zu bremsen, bevor sie zu laut wurden.
Aber sie kam. Nicht mit Lärm. Nicht mit Worten. Nur als Bild. Als Schatten. Als Echo.
Silke.
Sie war da. In mir. Noch immer. Ihre Präsenz war nicht verschwunden. Sie kniete vor meinem inneren Auge, lautlos, fordernd, eindeutig. Ich versuchte, sie zu verdrängen. Mit jedem Stoß. Mit jeder Bewegung. Ich versuchte, Jochen zu spüren. Zu lieben. Ihn zu retten. Oder mich. Oder uns.
Ich schloss die Augen. Nicht aus Erregung. Aus Schuld. Und flüsterte mir selbst einen Gedanken zu, wie ein Mantra:
„Du musst das tun. Du schuldest ihm das. Du darfst dich nicht verlieren.“
Ich hielt ihn fester. Fester als sonst. Als wollte ich mich selbst daran erinnern, wie sich Treue anfühlt. Oder wenigstens so tun, als wäre sie noch in mir.
Und dann war es vorbei. Schnell. Leise. Ein einziger Atemzug. Ein Satz. Ein „Danke, dass du da bist.“
Er küsste mich auf die Stirn.
Und ich lächelte.
Nicht echt. Nicht falsch. Nur... geordnet.
Er war eingeschlafen. Noch im Auto. Der Kopf zur Seite gefallen, der Mund halb geöffnet, ein leises Schnarchen in der Stille, die zwischen uns wuchs wie ein Raum ohne Licht. Der Geruch von Bier lag auf seinen Lippen, gemischt mit der Müdigkeit eines Tages, der für ihn nur ein Fest gewesen war. Ich schwieg. Ganz leise. Kein Satz. Kein „War schön mit dir“. Kein Händedruck. Nur sein Atem, flach und rhythmisch, wie ein Punkt hinter einem Satz, den ich nicht mehr schreiben wollte.
Ich parkte. Stieg aus. Öffnete seine Tür. Zog ihn mit Mühe auf die Beine. Er war schwer, träge – nicht betrunken, nur… verloren. Ich führte ihn hinein. Nicht ins Bett. Auf das Sofa. Unser Bett war kein Ort mehr für ihn. Es war nicht böse gemeint. Nur konsequent. Dort passte er nicht mehr hin.
Ich deckte ihn zu. Nicht fürsorglich. Nicht zärtlich. Eher automatisch. Wie man ein Möbelstück schützt. Oder einen verletzten Hund. Nicht aus Liebe. Aus Gewohnheit.
Dann ging ich in mein Zimmer. Zog mich aus. Langsam. Ohne Bedeutung. Nicht sinnlich. Nur müde. Meine Bewegungen waren leer, als gehörten sie jemand anderem. Ich legte mich ins Bett, zog die Decke bis zur Brust, ließ das Licht aus – aber in meinem Kopf war alles grell, überbelichtet, zu laut.
Ich lag da. Auf dem Rücken. Starr. Reglos. Die Luft im Raum war still. Zu still. Ich wusste nicht, was ich denken durfte. Oder fühlen sollte. Ich war da. Aber nicht bei mir.
Und meine Hand… wanderte.
Nicht geplant. Nicht bewusst. Nur geführt von etwas, das tiefer lag als Wille. Dorthin, wo ich mich noch spüren konnte. Zwischen meinen Beinen war es warm. Feucht. Nicht von heute. Von ihr. Von Silke.
Ich atmete flach. Und als meine Finger die Stelle berührten, an der sie gewesen war, zuckte ich. Nicht vor Erregung. Vor Erinnerung. Mein ganzer Körper wurde zu einem Speicher ihrer Gegenwart.
Und dann… war sie da.
Vor meinem inneren Auge. Silke. Kniend. Nackt. Ihre Zunge an mir. Ihr Blick fordernd. Lautlos. Perfekt. Aber diesmal war sie nicht allein.
Hinter ihr: Jochen.
Er stand da. Starr. Sein Blick kalt. Keine Frage in seinen Augen. Nur Urteil. Verachtung. Wut. Ekel.
Er sagte nichts. Er musste nicht. Ich spürte es. Seine Abscheu brannte in meinem Nacken. Ich versuchte, die Augen zu schließen. Doch er blieb. Silke leckte weiter – und ich… ich war dazwischen. Gehetzt. Offen. Gefangen.
Meine Finger bewegten sich. Wie ein Flehen. Ein Ruf nach Erlösung. Ein Wunsch, dass jemand mich befreien würde – von mir selbst.
Ich war feucht. Bereit. Aber nicht für mich. Nicht für ihn.
Für sie.
Und sein Blick – er bohrte sich in mich wie ein Messer.
Ich kam nicht. Ich konnte nicht. Nicht so. Nicht unter diesem Blick. Ich zog die Hand zurück. Langsam. Widerwillig. Legte sie auf mein Herz. Es schlug zu schnell. Unruhig. Wie ein Tier, das weiß, dass es bald entdeckt wird.
Ich war nackt. Aber nicht frei. Ich war still. Aber nicht sicher.
Ich war allein. Mit mir. Mit Silke. Mit Jochen. Und keinem von ihnen konnte ich mehr in die Augen sehen.
Als ich aufwachte, war das Bett leer. Kein Rascheln neben mir, kein Atemzug, der mich hätte stören können. Nur der Geruch abgestandener Nachtluft hing im Raum, schwer, als hätte er sich festgesetzt in den Ritzen des Fensters, im Stoff der Vorhänge. Und da war ein feuchter Fleck im Laken, den ich nicht einordnen wollte. Nicht jetzt. Nicht mehr.
Ich stand auf. Langsam. Jeder Handgriff fühlte sich an wie ein Echo von gestern. Die Bewegungen meiner Glieder trugen Spuren von dem, was ich zu vergessen versuchte. Oder vielleicht behalten wollte. Ich wusste es nicht.
In der Küche saß er schon. Im T-Shirt, die Haare zerzaust, mit dem Rücken zur Tür. Vor ihm dampfte der Kaffee, daneben lag eine Aspirin-Tablette wie ein stilles Eingeständnis. Er rieb sich die Schläfen, stöhnte leise.
„Boah… ich glaub, ich hab gestern zu viel Uso mit Onkel Klaus gesoffen“, murmelte er, die Stimme rau, ohne Wärme. Nur müde. Und seltsam fern.
Ich sagte nichts. Kein Guten Morgen. Kein Lächeln. Ich ging zum Schrank, nahm mir eine Tasse, goss Kaffee ein. Jedes Geräusch – das Klirren der Tasse, das Gluckern der Kanne – ließ mich innerlich zusammenzucken. Als wäre der ganze Raum aus Porzellan und ich zu grob für diese Welt geworden.
Er sprach weiter, beiläufig, als wären wir zwei Fremde, die sich zufällig in einer Ferienwohnung begegneten.
„Sag mal… hab ich Silke versprochen, dass ich ihr ’nen neuen Laptop besorg? Ich hab so einen Filmriss. Null Erinnerung an die letzte Stunde.“
Ich starrte in meine Tasse. Die Oberfläche des Kaffees war ruhig. Fast spiegelglatt. Aber darunter brodelte es.
Keine Erinnerung. Nicht an die Scheune. Nicht an mein Schweigen. Nicht an meine zitternden Beine. Nicht an den Moment, in dem ich mich ihm hingegeben hatte, weil ich glaubte, dass es vielleicht ein Anfang sein könnte. Ein Versuch. Ein Wir. Vielleicht sogar ein Kind.
Aber da war nichts. Kein Nachklang. Kein Funke. Nur ein Filmriss und ein billiger Witz über Uso mit Onkel Klaus.
Ich setzte mich. Gegenüber. Unsere Knie hätten sich berühren können. Doch zwischen uns war eine Kälte, die größer war als der Tisch.
„Nein“, sagte ich leise. „Du hast nichts versprochen.“
Er nickte. Langsam. Dankbar. Wie jemand, der froh ist, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ohne zu merken, wie sehr ich dabei zerbrach.
Ich trank einen Schluck. Der Kaffee war zu stark. Oder ich zu weich.
In meinem Bauch war nur Leere. Kein Kind. Kein Beginn. Kein Morgen. Nur ein Vakuum. Stille. Komplett.
Und doch spürte ich noch immer Silkes Blick. Ihre Zunge. Ihre Stimme. Das Flüstern, das in mir brannte und nicht weichen wollte:
„Schreib mir. Oder schweig. Und es ist nie passiert.“
Ich hatte geschwiegen.
Aber es war passiert.
Und er – der Mensch, den ich liebe – erinnerte sich nicht einmal, dass ich ihn geliebt hatte.
Ich hatte es nicht geplant. Nicht überlegt. Es war kein taktischer Zug, keine Falle, kein Wunsch nach Enthüllung. Es kam einfach. In dem Moment, als Jochen gerade die Spülmaschine einräumte, fragte ich ihn – beinahe beiläufig, so leise, dass es mir selbst fremd vorkam:
„Wie ist eigentlich Silkes Verhältnis zu eurem Vater?“
Er hielt kurz inne. Ein winziger Ruck ging durch seine Schulter, kaum sichtbar, aber spürbar. Etwas in ihm zog sich zurück, vielleicht Erinnerung, vielleicht Schmerz. Dann schloss er die Klappe der Maschine mit einem dumpfen Geräusch, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und sah nicht mich an, sondern an mir vorbei – in die Ecke, wo der Brotkorb stand.
„Kompliziert“, sagte er schließlich. Dann ein kurzes Lachen. Trocken. Ohne jede Spur von Heiterkeit.
„Unser Vater hat sie verstoßen. Damals… als er sie knutschend mit Paula in der Scheune erwischt hat. Ich glaub, sie war gerade achtzehn. Er ist völlig ausgerastet. Hat geschrien, ihr Sachen aus dem Fenster geworfen und gebrüllt, er hätte keine Tochter mehr.“
Ich schwieg. Wartete nur. Mein Puls pochte in den Ohren, als würde mein Körper mehr wissen als mein Kopf.
„Das erste Jahr war die Hölle. Vor allem für unsere Mutter. Sie hat so gelitten. Aber sie hat sich durchgesetzt. Hat gesagt, Silke muss zu den Familienfeiern kommen dürfen – egal, was war.“
Ich schluckte. Meine Stimme war leiser, als ich sie beabsichtigt hatte: „Und Heinz?“
Jochen zuckte mit den Schultern, als sei es nichts weiter als ein alter, abgelegter Mantel.
„Er hat irgendwann gesagt, okay – sie darf kommen. Aber er redet nie wieder ein Wort mit ihr. Nicht, solange sie… na ja… Sex mit Frauen hat.“
Ich nickte. Nicht aus Verständnis. Sondern weil ich nichts anderes tun konnte, ohne mich zu verraten.
„Und Silke?“, flüsterte ich, fast gegen meinen Willen.
„Hat ihn ernst genommen“, sagte Jochen. „Bringt seitdem regelmäßig Paula mit. Die sind längst kein Paar mehr. Aber sie liebt es, ihn zu provozieren. Und er ignoriert sie. Konsequent. Genau so, wie sie es will.“
Dann lächelte er plötzlich. Sanft. Ehrlich. Fast stolz.
„Ich find’s übrigens schön, dass du so viel Kontakt zu ihr hast. Sie hat mir erzählt, ihr schreibt viel. Berufliche Weiterbildung und so…“
Ich starrte ihn an. Für einen Moment war mir übel. Nicht vom Kaffee. Von dieser Lüge. Dieser verdammten, glatten Lüge.
Silke hatte ihn belogen. Ihm ins Gesicht. Ohne zu zucken. „Weiterbildung.“
Ich hätte fast gelacht. Laut. Hysterisch.
Wir schrieben nicht. Wir glitten. Wir flüsterten. Wir kamen. Wortlos.
Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Erregung. Verwirrung. Wut. Ekel.
Und dann war da wieder das Bild. Es war nicht mehr nur Erinnerung. Es war Gegenwart. Wie Silke zwischen meinen Schenkeln lag. Ihre Zunge. Ihr Blick. Ihre Finger – nicht haltend, nicht fordernd. Nur... da. Und ich? Ich war darin verloren.
Doch dann kam das andere Bild. Das, das alles überlagerte. Nicht Fiktion. Nicht Traum.
Heinz.
Wie er in die Tür tritt. In dieses Zimmer. In dieses Bett. Seine Tochter. Mich. Meine Beine offen. Sein Blick.
Mir wurde kalt. Nicht von außen. Von innen.
Was wäre gewesen, wenn ausgerechnet er uns erwischt hätte?
Der Mann, der sie einst verstoßen hatte. Der Mann, der jetzt wieder Torte schneidet, als wäre nichts gewesen. Als wäre Zeit genug vergangen, um Erinnerung zu glätten.
Ich schloss die Augen. Einen Moment zu lang. Und da war sie wieder.
Silke.
Meine Schuld. Mein Feuer. Mein Schwindel.
Und ich fragte mich, ob ich ihr schreiben sollte. Oder ihm. Oder niemandem.
Denn alles, was gerade in mir tobte, passte nicht mehr in diese Küche. Nicht zu diesem Mann. Nicht in diese Familie.
Nicht in mich.
Ich hatte das Handy schon fünfmal in der Hand. Und genauso oft wieder hingelegt. Manchmal nur für Sekunden. Manchmal für Stunden. Jede Bewegung war eine Möglichkeit. Jedes Nichtstun eine Kapitulation.
Ich war nicht mehr bei mir. Nicht in dieser Küche, nicht im Gespräch mit Jochen, nicht in diesem Abend, der sich wie eine zu schwere Decke über alles legte. Zu weich, zu still, zu spät.
Ich hatte mich umgezogen. Nicht für ihn. Nicht für mich. Für die Normalität. Aber sie passte nicht mehr. Ich fühlte mich fremd in ihr, als hätte ich ein Kostüm übergestreift, das längst zu klein war.
Ich saß auf der Couch. Die Beine untergeschlagen. Der Rücken gerade. Mein Körper ruhig. Meine Gedanken laut.
Ich war wütend. Auf ihn. Auf seine Vergesslichkeit. Auf seinen leeren Blick. Auf das, was er nicht gesehen hatte. Auf das, was er nicht gespürt hatte. Wir hatten miteinander geschlafen – das erste Mal seit der Fehlgeburt. Ich hatte gehofft, es würde etwas zurückbringen. Ein Wir. Ein Neubeginn. Ein leiser Wille, sich wiederzufinden.
Und er? Er erinnerte sich nicht einmal daran, dass er in mir gewesen war.
Und dann war da Silke.
Wie ein Fehler, der sich anfühlte wie Wahrheit.
Ich dachte an ihre Zunge. An ihre Finger. An diesen Moment, als sie einfach vor mir kniete – ohne ein Wort, ohne eine Frage, ohne jede Erklärung. Nur mit sich. Und mit mir.
Ich war feucht, bevor ich es bemerkte. Schon wieder. Nicht wegen Jochen. Nicht wegen gestern. Wegen ihr.
Ich ließ meine Hand auf meinem Bauch ruhen. Nur einen Moment. Nur, um mich zu spüren. Um mir selbst zu beweisen, dass ich noch da war.
Und dann wanderte sie. Automatisch. Still. Zwischen meine Beine. Durch Stoffschichten hindurch. Meine Finger fanden jenen Punkt, den nur sie je so genau getroffen hatte. Nicht gesucht. Nur gefunden.
Ich presste meine Oberschenkel zusammen. Nicht zum Schutz. Zur Verstärkung. Der Druck machte mich ehrlicher.
Ich atmete tief. Meine Lippen öffneten sich leicht. Kein Laut. Nur dieses leise Vibrieren in meiner Kehle. Und ich wusste – ohne Zweifel:
Das hier… war kein Zufall mehr.
Ich hatte sie nicht nur gespürt. Ich hatte sie gewollt. Ich wollte sie noch immer.
Ich nahm das Handy. Wieder. Öffnete unseren Chat. Wieder.
Ihr letzter Satz stand da. Glasklar. Unverrückbar.
„Wenn du mehr willst, schreib mir. Oder schweig. Und es ist nie passiert.“
Ich starrte ihn an. Als könnte ich darin erkennen, wer ich war. Wer ich gerade wurde. Oder schon geworden war.
Ich wollte schreiben. Nur ein Wort. Ein Hauch. Ein „Ich“. Oder „Du“. Oder gar nichts, nur drei Punkte.
Aber ich wusste:
Wenn ich es tue – wenn ich ihr antworte – dann gibt es kein Zurück.
Kein „Ich wusste nicht, was ich tat.“
Kein „Es war nur ein Moment.“
Kein „Es war ein Versehen.“
Dann ist es Entscheidung.
Dann ist es Wahl.
Dann ist es… wir.
Kommentare
Prickelpitt13 (nicht registriert) 16.07.2025 17:39
Großes Lob. Eine ungewöhnliche und spannende Geschichte mit leiser, deshalb sehr intensiven Erotik.
Bitte mehr davon.
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