Gina öffnete das Fenster und sog, immer noch angewidert, die frische Luft ein. Sie war kurz vor dem ersticken.
Der letzte Freier, eine richtige Drecksau, stank als würde sein Körper bei lebendigem Leib vergammeln. Zum Glück kam er schnell, als sie ihm mit der Hand einen runterholte. Sie legte den fünfziger, den ihr die Stinkmorchel in den Ausschnitt gestopft hatte in die Geld Kassette und verstaute sie wieder im Schrank. Seit sie keinen Geschlechtsverkehr mehr anbot, war ihr Einkommen markant zurückgegangen. Aber es ging einfach nicht mehr. In den letzten vierzig Jahren hatten hunderte, wenn nicht tausende Männer ihren Körper zur eigenen Befriedigung missbraucht. Jetzt war sie Anfang sechzig, ausgelaugt und desillusioniert. Die Ersparnisse waren fast aufgebraucht und sie durfte gar nicht daran denken wie es weitergehen sollte, wenn ihr Konto definitiv leer war. Vermutlich bliebe ihr dann nur noch der Gang aufs Sozialamt. Die kleine Wohnung, in der sie seit zwanzig Jahren lebte und arbeitete, müsste sie vermutlich aufgeben. Die Miete war einfach zu hoch. Für vergleichbaren Wohnraum an anderer Lage, bezahlte man nicht einmal die Hälfte dessen, was sie hier hinblätterte. Aber solange sie noch Freier empfing, kam ein Umzug nicht in Frage. Die Männer schätzten die Anonymität. Nahe des Hauptbahnhofs gelegen, aber trotzdem abseits des Passanten Stroms, konnten die Männer unbemerkt ihre Gelüste befriedigen kommen.
Gina seufzte und setzte sich zu ihren Pflanzen auf den Balkon, der über einem tristen Innenhof hing. Sie wohnte zwar im obersten Stockwerk, aber die Sonne vermochte die Tomaten und Erdbeeren, welche sie in länglichen Geranienkästen zog, kaum zu bescheinen und entsprechend klein viel jedes Jahr die Ernte aus. Einzig das Efeu rankte staubig grün den Gitterstäben des Geländers entlang.
Lucie die Taube flatterte heran und setzte sich gurrend auf das runde Tischchen neben ihrem Stuhl.
"Und, wie geht es dir heute Lucie?"
Seit etwa drei Monaten kam Lucie jeden Tag auf Besuch. Gina wusste zwar nicht, ob es eine Sie war, aber der Name Lucie hatte ihr schon immer gefallen und sie vermutete, der Taube war es egal wie sie genannt wurde. Sie musste schon ziemlich alt sein. Ihrem Gefieder fehlten Federn und es war schmutzig und ausgefranst. Am rechten Bein fehlte sogar eine Kralle.
Gina bröselte etwas von dem harten Brot, das sie immer in einer Plastik Box für die Besucherin bereit hielt, auf den Tisch. Lucie pickte danach, flatterte dann auf das Balkon Geländer und rieb ihren Schnabel daran.
Gina musste an ihre Kindheit, in dem kleinen Tessiner Dorf hoch über Lugano denken. Sie war ein richtiges Landei und wenn in ihrem Leben alles so verlaufen wäre, wie sie es sich gewünscht hätte, würde sie heute die Frau eines Bauern oder Winzers sein. Sie hätte Kinder groß gezogen, wäre jeden Tag in der Natur draußen gewesen und würde jetzt vermutlich in ihrem Garten knien und Unkraut jäten.
Es war alles anders gekommen.
Nach der Schule machte sie eine Lehre als Verkäuferin, lernte einen Deutschschweizer kennen und zog nach Zürich. Die Beziehung ging in die Brüche, aber sie blieb in der Stadt. Sie war jung, wollte das Leben genießen und verschuldete sich. Ihr Verkäuferinnen Lohn reichte hinten und vorne nicht, um mit dem Lebensstil ihres Freundeskreises mitzuhalten. Wie Naiv sie doch damals war. Ein Freund meinte, mit ihrem Aussehen könnte sie als Escort gutes Geld verdienen. Und so war es auch. Sie empfand sich damals nicht als Hure. Die Männer buchten sie für mehrere Stunden oder sogar über das ganze Wochenende und besuchten mit ihr Konzerte und Theateraufführungen. Führten sie in die teuersten Restaurants und kauften ihr manchmal schöne Dessous und Unterwäsche. Sie hatte am Honigtopf genascht und wollte sich nicht mehr mit Zuckerwasser zufriedengeben. Als sie auf die dreißig zuging, war die goldene Zeit vorbei. Der Mauerfall schwemmte junge Frauen aus dem ehemaligen Ostblock auch nach Zürich und die Preise gingen in den Keller.
Reichten ihr früher vier bis fünf Escort Einsätze im Monat, musste sie nun täglich mehrmals Männer empfangen, um ihren Lebensstil einigermaßen aufrecht erhalten zu können.
Gina wischte die trüben Gedanken beiseite und erklärte Lucie: "Morgen kommt der Hans-Peter aus dem Emmental. Was meinst du, soll ich ihm eine Mais Polenta kochen? Oder Spaghetti? Ich mach ihm einen Teller Spaghetti, er mag doch meine Soße so gern!"
Lucie gurrte zustimmend, flatterte wieder auf den Tisch und pickte weitere Brösel auf. Es klingelte und die Taube flog auf das gegenüberliegende Dach.
Gina erhob sich ächzend und ging an die Haustür. Es war der Lange dünne mit dem verschlagenen Dauer grinsen. Der kam alle zwei Monate vorbei und schaute zu, wie sie ihre Brüste massierte und dabei onanierte er. Kein Körperkontakt. Gina atmete erleichtert auf. Sie entfernte die Sicherheitskette an der Tür und lies ihn herein. Kaum stand er in der Wohnung, drängte ein weiterer Mann herein.
Die beiden packten sie und rissen ihr die Kleider vom Leib. Der Fremde drängte sie aufs Bett und während sie von dem Langen festgehalten wurde, zog der andere seine Hosen aus.
Gina hatte in ihrem Leben als Prostituierte so ziemlich alle Perversionen, die einem männlichen Hirn entspringen konnten erlebt. Sie wusste, wenn sie sich wehrte, würden die Männer nur noch gröber über sie herfallen. Sie entspannte ihren Beckenboden, verkrümelte sich in einem schönen Gedanken und lies der Sache ihren Lauf. Als sich der Fremde grunzend von ihr wälzte und der Lange noch zu Ende onanierte und seine Ladung an ihr Gesicht spr*tzte, kam sie zurück in die Realität. Der Lange hatte wenigstens noch den Anstand ihr einen fünfziger an die Stirn zu kleben. Als die beiden ihre Wohnung verlassen hatten, reinigte sie den Geldschein und duschte ausgiebig.
Am nächsten Morgen ging sie gut gelaunt einkaufen. Gegen Mittag würde endlich wieder einmal der Hans-Peter vorbeikommen. Er war ein alter Bauer, schon weit in seinen achtzigern und reiste alle vier Monate extra aus dem Emmental an, um einfach nur in ihrer Wohnung zu sitzen und ihr beim kochen, stricken, bügeln oder sonst einer Hausarbeit zuzusehen. Vor gut zwanzig Jahren stand er eines Tages vor ihrer Tür und fragte schüchtern, ob sie eine richtige Hure wäre.
Damals hatte sie über seine gutmütige Naivität laut lachen müssen und er flüchtete beschämt die Treppe hinab. Sie war ihm durchs halbe Haus nachgerannt und konnte ihn schließlich beruhigen. Als er dann in ihrer Wohnung stand und sie wissen wollte, wie er es denn gerne habe, fragte er stotternd: "Darf ich dir beim kochen zuschauen?"
Ihr erster Gedanke war: wie schön, leicht verdientes Geld.
Als sie dann oben ohne in der Wohnküche hantierte, sass er am Tisch und schaute ihr dabei verträumt zu. Er Onanierte nicht, lies keine perversen Sprüche vom Stapel und als sie ihm einen Teller Spaghetti hinstellte und ihn ermunterte ihre Brüste anzufassen, lächelte er sanft und erklärte: "Mein Sehnen ist anderer Natur!"
Sie konnte sich nie einen Reim auf diesen Spruch machen. Doch er besuchte sie von da an alle vier Monate und brachte jedesmal etwas von seinem Hof mit. Honig, Gemüse, Eier, Kartoffeln und manchmal eine Kanne Milch. Mit den Jahren wurden seine Besuche zu einer festen Größe in ihrem Leben. Zu wissen, dass er kam, half ihr über die schwierigsten Zeiten hinweg.
Schon bei seinem allerersten Besuch, schob sie ihm den Huren Lohn wieder in die Jackentasche, als er sich verabschiedete und bis Heute war dies ihr Abschiedsritual geblieben. Er erzählte nie viel über sich, blühte aber auf wenn sie über die Natur sprachen. Er war der einzige Mensch, dem sie ihre Träume, Wünsche und Gedanken offenbaren konnte.
Die Spaghetti Soße brodelte, einen duftigen Tomaten, Oregano und Zwiebel Geruch in der Wohnung verbreitend, auf kleiner Flamme. Gina schaute nervös zum wiederholten male auf ihre kleine Armbanduhr. Hans-Peters Zug traf normalerweise um viertel nach elf in Zürich ein und etwa zwanzig Minuten später klopfte er an ihre Tür. Jetzt war es schon fünf nach zwölf. Besorgt stellte sie das Pfännchen auf einen Teller und drehte die Gasflamme herunter. Sie zog sich eine Strickjacke über und ging ins Treppenhaus. Sein Schnaufen war nicht zu hören und als sie unten beim Hauseingang stand und die Strasse überblickte, war er nirgends zu sehen.
Sie hastete wieder die Treppe hoch und ihre Nervosität wich einer tiefen Besorgnis. Hatte sie sich vielleicht im Datum geirrt? Auf dem Wandkalender mit den schönen Blumenbildern war der 24. Juni rot eingekreist, das war heute. War er vielleicht krank? Das konnte gut möglich sein, er war schon Mitte 80 und um seine Gesundheit stand es schon bei seinem letzten Besuch nicht zum besten.
Sie hatte ihn nie nach seiner Telefonnummer gefragt und wusste nur, dass er hoch über Langnau im Emmental, in einem kleinen Haus wohnte. Nicht einmal seinen Familiennamen kannte sie. Und überhaupt, auch wenn sie seine Nummer gehabt hätte, konnte sie nicht einfach anrufen. Vielleicht nahm seine Frau ab, oder sonst jemand aus seiner Familie. Was sollte sie dann sagen? "Guten Tag, ich bin Gina, eine Hure aus Zürich und wollte fragen, warum mich Hans-Peter nicht besuchen kommt!"
Gina schabte die Spaghetti Soße in einen Luftdichten Plastik Behälter und stellte ihn in den Kühlschrank. Dann öffnete sie die Balkontür und lüftete die Wohnung.
Gedankenverloren starrte sie auf die gegenüberliegende Hausfassade, als Lucie auf dem Balkon Tischchen landete, etwas aus ihrem Schnabel fallen lies und dann aufs Geländer flatterte. Sie gurte und nickte ein paar mal mit ihrem Kopf in Richtung Tisch.
Gina ging näher heran und sah, das ihr die Taube einen Sonnenblumenkern hingelegt hatte. "Das ist aber lieb von dir Lucie. Den werde ich nächsten Frühling einpflanzen und wenn die Sonnenblume wächst und blüht, werden aus diesem einen Kern, ganz viele neue. Die sind dann alle für dich!" Gina vermeinte zu sehen, dass Lucie zustimmend nickte, bevor sie davon flog.
Als Hans-Peter gegen viertel vor zwei immer noch nicht auftauchte; Gina gab sich der Hoffnung hin, er hätte den Zug verpasst, wusste sie, dass etwas geschehen war.
Sie setzte sich an den Esstisch und blätterte traurig die Post durch, nur Werbung.
Sie wollte gerade die Prospekte auf den Stapel für die Papiersammlung legen, als ein Briefumschlag heraus rutschte und zu Boden fiel.
Die Absender Adresse war unscheinbar kleingedruckt und Gina musste sich ihre Lesebrille aufsetzen.
Sie öffnete den Brief, las ihn einmal durch und als ihr Verstand das geschriebene zu erfassen begann, musste sie sich setzen. Ihr ganzer Körper zitterte. Zum ersten mal nach Jahrzehnten, begann sie zu weinen.
Hans-Peter war vor etwas über drei Monaten gestorben. Kurz nach seinem letzten Besuch bei ihr. Sie las den Brief, durch einen Tränenschleier noch einmal:
Sehr geehrte Frau Gina Scappa,
Der am 7. März 2022 verstorbene Hans-Peter Siegenthaler, wohnhaft gewesen in ... hat sie in seinem Testament als Begünstigte aufgeführt.
Würden sie sich bitte telefonisch in unserem Notariats-Büro, zwecks Terminvereinbarung zur Testamentseröffnung melden.
Gina schüttelte ungläubig den Kopf. Begünstigte? Das bedeutete sie würde etwas von ihm erben.
Der Notar lenkte seinen Wagen von der Strasse und sie fuhren über einen holperigen Feldweg zu einem kleinen Haus. Das typische Emmentaler Walmdach sass wie ein tief ins Gesicht gezogener Hut auf der dunkel braunen Holzkonstruktion und erzeugte eine Atmosphäre beschützender Gemütlichkeit. Es war nicht das Anwesen eines reichen Landwirtes, sondern das Bescheidene, aber zweckmäßige Heim eines Tagelöhners und Feierabend Bauers. Der ehemalige Gemüsegarten, Gina sah noch vereinzelte Zaunlatten an einem rostigen Metallrahmen hängen, war von Unkraut durchwuchert. Holunder, Haselbüsche und dornige Brombeeren säumten Teilweise den Zaun. Zwischen der mit Holz Schindeln abgedeckten Hausfassade und dem Garten, stand ein Brunnen und Wasser plätscherte in einen langen Trog aus Granit.
Auf jeder Fensterbank standen Geranienkästen mit verdorrtem Kraut und dahinter spiegelten matt die kleinen Fenster. Einige zeigten rot weiß karierte Vorhänge, andere waren mit Fensterläden verschlossen.
Der Notar führte sie zum Hauseingang, öffnete die Tür und erklärte: "Frau Scappa, wie abgemacht werde ich sie in etwa zwei Stunden abholen kommen!"
Gina nickte. Sie brachte immer noch kein Wort heraus. Als der Wagen zurück auf die Strasse rumpelte, setzte sie sich auf den Rand des Brunnentrogs und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
Hans-Peter hatte ihr das Haus vererbt, dazu ein paar Hektaren Kulturland und etwas Wald. Der Notar empfahl ihr, falls sie Eigenbedarf geltend machen wolle, Hans-Peters Hypothek zu übernehmen. Die Liegenschaft war nahezu Schuldenfrei und mit einem minimalen Hypothekenzins von fünfhundert Franken monatlich würde sie steuer technisch nicht all zu sehr belastet. Der Wald und das Land war verpachtet und Hans-Peter hatte mit den Zins Einnahmen immer wieder nötige Reparaturen am Haus finanziert.
Anscheinend gab es Kaufinteressenten und der Schätzwert lag bei knapp 1 Million Franken.
Das war ein hübsches Sümmchen Geld. Genug um sich zur Ruhe zu setzen.
Gina lies den Blick schweifen und war hin und her gerissen. Aber wie sollte sie hier ihr Leben finanzieren? Krankenkasse, Hypo-Zins, Strom, Essen, alles kostete Geld.
Geld das sie nicht mehr verdienen würde. Sie sagte leise: "Ach Hans-Peter, du herzensguter Mensch! Vermachst mir dein Haus und ich kann doch nicht darin wohnen." Sie seufzte traurig und betrachtete wehmütig den verwilderten Garten und murmelte: "Es wäre so schön hier, aber ich werde wohl alles verkaufen müssen."
Aus den Augenwinkeln sah sie einen Schatten am Himmel und als sie sich ihm zu wandte, flatterte eine Taube vor den Hauseingang. Sie hielt etwas im Schnabel und legte es direkt vor die Tür. Gina traute ihren Augen nicht. Es war Lucie.
Die Taube klopfte mit dem Schnabel an die hölzerne Eingangstür, blickte zu Gina und flatterte davon. Gina ging zur Tür und sah einen Sonnenblumenkern davor liegen. Sie hob ihn auf und starrte Minutenlang darauf. Ihr schwirrte der Kopf. Hatte das etwas zu bedeuten?
Schließlich fasste sie sich und trat ins Haus. Überall auf der Rustikalen hölzernen Inneneinrichtung lag Staub. Hans-Peter hatte sehr bescheiden gelebt und Gina sah, dass er die Wohnung nicht mit unnötigem zugestellt hatte. Einzig die Küche entsprach Modernem Standard. Anscheinend hatte er sie noch kurz vor seinem Tod einbauen lassen. Im Spülbecken lag sogar noch der Teller, seiner wohl letzten Mahlzeit.
Sie betrat sein Schlafzimmer und erstarrte. Ihr Blick fiel auf das Ölbild direkt über dem Kopfteil des Bettes. Es zeigte zwei dicht beieinander stehende Sonnenblumen. Eine verdorrte, mit hängendem Kopf, die andere leuchtend gelb und das Haupt gegen den Himmel streckend. Gina öffnete die Hand und betrachtete den Sonnenblumenkern.
Leise fragte sie: "Willst du mir etwas mitteilen Hans-Peter?"
Einer inneren Stimme folgend, kniete sie sich auf das Bett und hob das Bild von der Wand. Dahinter kam ein Hohlraum zum Vorschein und darin lag etwas in ein Leinentuch eingewickelt. Als sie das Bündel hervorholte, flatterte ein Brief auf das Bett. Darauf stand ihr Name. Sie ging nach draußen und setzte sich auf die wackelige Holzbank neben dem Eingang. Neugierig öffnete sie den Brief.
Liebe Gina
Wenn du das liest werde ich, so der Herrgott sich meiner erbarme, im Himmel sein und mit großer Liebe im Herzen an dich denken.
Du hast mir in all den Stunden die ich bei dir sitzen durfte, meine große Qual etwas erträglicher gemacht. Wäre mein Leben anders verlaufen, wärst du genau die Frau gewesen, die ich mir an meiner Seite gewünscht hätte. Ich will dir nichts Erklären, denn die Erinnerung daran ist auch heute, über sechzig Jahre später immer noch sehr schmerzlich. Du findest im Bündel Unterlagen, die meine Vergehen offen legen. Bilde dir ein eigenes Urteil. Bedenke dabei aber bitte, dass alles in meiner Jugend passierte und ich seit damals niemandem mehr ein Leid zufügte.
In Liebe, dein Hans-Peter
Gina wickelte das Leinentuch auf und legte den Inhalt neben sich auf die Sitzbank.
In einem dicken Umschlag lagen mehrere Tausender noten. Sie erbleichte und ihr Herz klopfte bis zum Hals.
Dann nahm sie die braune Ledermappe zur Hand und begann die darin aufbewahrten Akten zu lesen.
Als sie damit durch war, liefen ihr fassungslos stille Tränen über das Gesicht.
Hans-Peter hatte als junger Mann unter Alkoholeinfluss, in Bern zwei Prostituierte Vergewaltigt und in Langnau eine Kellnerin. Er wurde 1954 gefasst, verurteilt und gegen seinen Willen Kastriert und dann in der Psychiatrie verwahrt. Erst Mitte der siebziger Jahre kam er wieder in die Freiheit.
Prolog
Es würde ein heißer Tag werden und Gina beschloss, gleich mit der Gartenarbeit zu beginnen. Sie trank einen letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse in die Spüle. Vor dem Haus stehend blinzelte sie in die aufgehende Morgensonne und bückte sich dann nach der jungen Katze die ihr um die Beine strich. Sie hob sie auf den Arm und murmelte: "Guten Morgen kleiner Schnurli, hast du auch so gut geschlafen wie ich?"
Sie ließ das Tier wieder auf den Boden gleiten und dachte: Wenn ich den Stall und die Pferche wieder auf Vordermann gebracht habe, besorge ich ein paar Hühner, Kaninchen, Ziegen, und vielleicht sogar einen Hund, der ihr Gesellschaft leisten würde.
Hätte ihr vor einem Jahr jemand gesagt, dass ihr das Schicksal so etwas zudachte, sie hätte es beim besten Willen nicht geglaubt. Das Geld von Hans-Peter und die kleine Rente die sie bald ausbezahlt bekam, waren mehr als genug, um sich keine Sorgen mehr zu machen. Außerdem hatte sie jetzt einen richtigen Garten der sie mit Gemüse, Kartoffeln, Beeren und Obst versorgte.
Gina kniete sich ins Unkraut, blickte zuerst ins schattige Tal hinunter und lächelte dann glücklich in die Sonne.
Der letzte Freier, eine richtige Drecksau, stank als würde sein Körper bei lebendigem Leib vergammeln. Zum Glück kam er schnell, als sie ihm mit der Hand einen runterholte. Sie legte den fünfziger, den ihr die Stinkmorchel in den Ausschnitt gestopft hatte in die Geld Kassette und verstaute sie wieder im Schrank. Seit sie keinen Geschlechtsverkehr mehr anbot, war ihr Einkommen markant zurückgegangen. Aber es ging einfach nicht mehr. In den letzten vierzig Jahren hatten hunderte, wenn nicht tausende Männer ihren Körper zur eigenen Befriedigung missbraucht. Jetzt war sie Anfang sechzig, ausgelaugt und desillusioniert. Die Ersparnisse waren fast aufgebraucht und sie durfte gar nicht daran denken wie es weitergehen sollte, wenn ihr Konto definitiv leer war. Vermutlich bliebe ihr dann nur noch der Gang aufs Sozialamt. Die kleine Wohnung, in der sie seit zwanzig Jahren lebte und arbeitete, müsste sie vermutlich aufgeben. Die Miete war einfach zu hoch. Für vergleichbaren Wohnraum an anderer Lage, bezahlte man nicht einmal die Hälfte dessen, was sie hier hinblätterte. Aber solange sie noch Freier empfing, kam ein Umzug nicht in Frage. Die Männer schätzten die Anonymität. Nahe des Hauptbahnhofs gelegen, aber trotzdem abseits des Passanten Stroms, konnten die Männer unbemerkt ihre Gelüste befriedigen kommen.
Gina seufzte und setzte sich zu ihren Pflanzen auf den Balkon, der über einem tristen Innenhof hing. Sie wohnte zwar im obersten Stockwerk, aber die Sonne vermochte die Tomaten und Erdbeeren, welche sie in länglichen Geranienkästen zog, kaum zu bescheinen und entsprechend klein viel jedes Jahr die Ernte aus. Einzig das Efeu rankte staubig grün den Gitterstäben des Geländers entlang.
Lucie die Taube flatterte heran und setzte sich gurrend auf das runde Tischchen neben ihrem Stuhl.
"Und, wie geht es dir heute Lucie?"
Seit etwa drei Monaten kam Lucie jeden Tag auf Besuch. Gina wusste zwar nicht, ob es eine Sie war, aber der Name Lucie hatte ihr schon immer gefallen und sie vermutete, der Taube war es egal wie sie genannt wurde. Sie musste schon ziemlich alt sein. Ihrem Gefieder fehlten Federn und es war schmutzig und ausgefranst. Am rechten Bein fehlte sogar eine Kralle.
Gina bröselte etwas von dem harten Brot, das sie immer in einer Plastik Box für die Besucherin bereit hielt, auf den Tisch. Lucie pickte danach, flatterte dann auf das Balkon Geländer und rieb ihren Schnabel daran.
Gina musste an ihre Kindheit, in dem kleinen Tessiner Dorf hoch über Lugano denken. Sie war ein richtiges Landei und wenn in ihrem Leben alles so verlaufen wäre, wie sie es sich gewünscht hätte, würde sie heute die Frau eines Bauern oder Winzers sein. Sie hätte Kinder groß gezogen, wäre jeden Tag in der Natur draußen gewesen und würde jetzt vermutlich in ihrem Garten knien und Unkraut jäten.
Es war alles anders gekommen.
Nach der Schule machte sie eine Lehre als Verkäuferin, lernte einen Deutschschweizer kennen und zog nach Zürich. Die Beziehung ging in die Brüche, aber sie blieb in der Stadt. Sie war jung, wollte das Leben genießen und verschuldete sich. Ihr Verkäuferinnen Lohn reichte hinten und vorne nicht, um mit dem Lebensstil ihres Freundeskreises mitzuhalten. Wie Naiv sie doch damals war. Ein Freund meinte, mit ihrem Aussehen könnte sie als Escort gutes Geld verdienen. Und so war es auch. Sie empfand sich damals nicht als Hure. Die Männer buchten sie für mehrere Stunden oder sogar über das ganze Wochenende und besuchten mit ihr Konzerte und Theateraufführungen. Führten sie in die teuersten Restaurants und kauften ihr manchmal schöne Dessous und Unterwäsche. Sie hatte am Honigtopf genascht und wollte sich nicht mehr mit Zuckerwasser zufriedengeben. Als sie auf die dreißig zuging, war die goldene Zeit vorbei. Der Mauerfall schwemmte junge Frauen aus dem ehemaligen Ostblock auch nach Zürich und die Preise gingen in den Keller.
Reichten ihr früher vier bis fünf Escort Einsätze im Monat, musste sie nun täglich mehrmals Männer empfangen, um ihren Lebensstil einigermaßen aufrecht erhalten zu können.
Gina wischte die trüben Gedanken beiseite und erklärte Lucie: "Morgen kommt der Hans-Peter aus dem Emmental. Was meinst du, soll ich ihm eine Mais Polenta kochen? Oder Spaghetti? Ich mach ihm einen Teller Spaghetti, er mag doch meine Soße so gern!"
Lucie gurrte zustimmend, flatterte wieder auf den Tisch und pickte weitere Brösel auf. Es klingelte und die Taube flog auf das gegenüberliegende Dach.
Gina erhob sich ächzend und ging an die Haustür. Es war der Lange dünne mit dem verschlagenen Dauer grinsen. Der kam alle zwei Monate vorbei und schaute zu, wie sie ihre Brüste massierte und dabei onanierte er. Kein Körperkontakt. Gina atmete erleichtert auf. Sie entfernte die Sicherheitskette an der Tür und lies ihn herein. Kaum stand er in der Wohnung, drängte ein weiterer Mann herein.
Die beiden packten sie und rissen ihr die Kleider vom Leib. Der Fremde drängte sie aufs Bett und während sie von dem Langen festgehalten wurde, zog der andere seine Hosen aus.
Gina hatte in ihrem Leben als Prostituierte so ziemlich alle Perversionen, die einem männlichen Hirn entspringen konnten erlebt. Sie wusste, wenn sie sich wehrte, würden die Männer nur noch gröber über sie herfallen. Sie entspannte ihren Beckenboden, verkrümelte sich in einem schönen Gedanken und lies der Sache ihren Lauf. Als sich der Fremde grunzend von ihr wälzte und der Lange noch zu Ende onanierte und seine Ladung an ihr Gesicht spr*tzte, kam sie zurück in die Realität. Der Lange hatte wenigstens noch den Anstand ihr einen fünfziger an die Stirn zu kleben. Als die beiden ihre Wohnung verlassen hatten, reinigte sie den Geldschein und duschte ausgiebig.
Am nächsten Morgen ging sie gut gelaunt einkaufen. Gegen Mittag würde endlich wieder einmal der Hans-Peter vorbeikommen. Er war ein alter Bauer, schon weit in seinen achtzigern und reiste alle vier Monate extra aus dem Emmental an, um einfach nur in ihrer Wohnung zu sitzen und ihr beim kochen, stricken, bügeln oder sonst einer Hausarbeit zuzusehen. Vor gut zwanzig Jahren stand er eines Tages vor ihrer Tür und fragte schüchtern, ob sie eine richtige Hure wäre.
Damals hatte sie über seine gutmütige Naivität laut lachen müssen und er flüchtete beschämt die Treppe hinab. Sie war ihm durchs halbe Haus nachgerannt und konnte ihn schließlich beruhigen. Als er dann in ihrer Wohnung stand und sie wissen wollte, wie er es denn gerne habe, fragte er stotternd: "Darf ich dir beim kochen zuschauen?"
Ihr erster Gedanke war: wie schön, leicht verdientes Geld.
Als sie dann oben ohne in der Wohnküche hantierte, sass er am Tisch und schaute ihr dabei verträumt zu. Er Onanierte nicht, lies keine perversen Sprüche vom Stapel und als sie ihm einen Teller Spaghetti hinstellte und ihn ermunterte ihre Brüste anzufassen, lächelte er sanft und erklärte: "Mein Sehnen ist anderer Natur!"
Sie konnte sich nie einen Reim auf diesen Spruch machen. Doch er besuchte sie von da an alle vier Monate und brachte jedesmal etwas von seinem Hof mit. Honig, Gemüse, Eier, Kartoffeln und manchmal eine Kanne Milch. Mit den Jahren wurden seine Besuche zu einer festen Größe in ihrem Leben. Zu wissen, dass er kam, half ihr über die schwierigsten Zeiten hinweg.
Schon bei seinem allerersten Besuch, schob sie ihm den Huren Lohn wieder in die Jackentasche, als er sich verabschiedete und bis Heute war dies ihr Abschiedsritual geblieben. Er erzählte nie viel über sich, blühte aber auf wenn sie über die Natur sprachen. Er war der einzige Mensch, dem sie ihre Träume, Wünsche und Gedanken offenbaren konnte.
Die Spaghetti Soße brodelte, einen duftigen Tomaten, Oregano und Zwiebel Geruch in der Wohnung verbreitend, auf kleiner Flamme. Gina schaute nervös zum wiederholten male auf ihre kleine Armbanduhr. Hans-Peters Zug traf normalerweise um viertel nach elf in Zürich ein und etwa zwanzig Minuten später klopfte er an ihre Tür. Jetzt war es schon fünf nach zwölf. Besorgt stellte sie das Pfännchen auf einen Teller und drehte die Gasflamme herunter. Sie zog sich eine Strickjacke über und ging ins Treppenhaus. Sein Schnaufen war nicht zu hören und als sie unten beim Hauseingang stand und die Strasse überblickte, war er nirgends zu sehen.
Sie hastete wieder die Treppe hoch und ihre Nervosität wich einer tiefen Besorgnis. Hatte sie sich vielleicht im Datum geirrt? Auf dem Wandkalender mit den schönen Blumenbildern war der 24. Juni rot eingekreist, das war heute. War er vielleicht krank? Das konnte gut möglich sein, er war schon Mitte 80 und um seine Gesundheit stand es schon bei seinem letzten Besuch nicht zum besten.
Sie hatte ihn nie nach seiner Telefonnummer gefragt und wusste nur, dass er hoch über Langnau im Emmental, in einem kleinen Haus wohnte. Nicht einmal seinen Familiennamen kannte sie. Und überhaupt, auch wenn sie seine Nummer gehabt hätte, konnte sie nicht einfach anrufen. Vielleicht nahm seine Frau ab, oder sonst jemand aus seiner Familie. Was sollte sie dann sagen? "Guten Tag, ich bin Gina, eine Hure aus Zürich und wollte fragen, warum mich Hans-Peter nicht besuchen kommt!"
Gina schabte die Spaghetti Soße in einen Luftdichten Plastik Behälter und stellte ihn in den Kühlschrank. Dann öffnete sie die Balkontür und lüftete die Wohnung.
Gedankenverloren starrte sie auf die gegenüberliegende Hausfassade, als Lucie auf dem Balkon Tischchen landete, etwas aus ihrem Schnabel fallen lies und dann aufs Geländer flatterte. Sie gurte und nickte ein paar mal mit ihrem Kopf in Richtung Tisch.
Gina ging näher heran und sah, das ihr die Taube einen Sonnenblumenkern hingelegt hatte. "Das ist aber lieb von dir Lucie. Den werde ich nächsten Frühling einpflanzen und wenn die Sonnenblume wächst und blüht, werden aus diesem einen Kern, ganz viele neue. Die sind dann alle für dich!" Gina vermeinte zu sehen, dass Lucie zustimmend nickte, bevor sie davon flog.
Als Hans-Peter gegen viertel vor zwei immer noch nicht auftauchte; Gina gab sich der Hoffnung hin, er hätte den Zug verpasst, wusste sie, dass etwas geschehen war.
Sie setzte sich an den Esstisch und blätterte traurig die Post durch, nur Werbung.
Sie wollte gerade die Prospekte auf den Stapel für die Papiersammlung legen, als ein Briefumschlag heraus rutschte und zu Boden fiel.
Die Absender Adresse war unscheinbar kleingedruckt und Gina musste sich ihre Lesebrille aufsetzen.
Sie öffnete den Brief, las ihn einmal durch und als ihr Verstand das geschriebene zu erfassen begann, musste sie sich setzen. Ihr ganzer Körper zitterte. Zum ersten mal nach Jahrzehnten, begann sie zu weinen.
Hans-Peter war vor etwas über drei Monaten gestorben. Kurz nach seinem letzten Besuch bei ihr. Sie las den Brief, durch einen Tränenschleier noch einmal:
Sehr geehrte Frau Gina Scappa,
Der am 7. März 2022 verstorbene Hans-Peter Siegenthaler, wohnhaft gewesen in ... hat sie in seinem Testament als Begünstigte aufgeführt.
Würden sie sich bitte telefonisch in unserem Notariats-Büro, zwecks Terminvereinbarung zur Testamentseröffnung melden.
Gina schüttelte ungläubig den Kopf. Begünstigte? Das bedeutete sie würde etwas von ihm erben.
Der Notar lenkte seinen Wagen von der Strasse und sie fuhren über einen holperigen Feldweg zu einem kleinen Haus. Das typische Emmentaler Walmdach sass wie ein tief ins Gesicht gezogener Hut auf der dunkel braunen Holzkonstruktion und erzeugte eine Atmosphäre beschützender Gemütlichkeit. Es war nicht das Anwesen eines reichen Landwirtes, sondern das Bescheidene, aber zweckmäßige Heim eines Tagelöhners und Feierabend Bauers. Der ehemalige Gemüsegarten, Gina sah noch vereinzelte Zaunlatten an einem rostigen Metallrahmen hängen, war von Unkraut durchwuchert. Holunder, Haselbüsche und dornige Brombeeren säumten Teilweise den Zaun. Zwischen der mit Holz Schindeln abgedeckten Hausfassade und dem Garten, stand ein Brunnen und Wasser plätscherte in einen langen Trog aus Granit.
Auf jeder Fensterbank standen Geranienkästen mit verdorrtem Kraut und dahinter spiegelten matt die kleinen Fenster. Einige zeigten rot weiß karierte Vorhänge, andere waren mit Fensterläden verschlossen.
Der Notar führte sie zum Hauseingang, öffnete die Tür und erklärte: "Frau Scappa, wie abgemacht werde ich sie in etwa zwei Stunden abholen kommen!"
Gina nickte. Sie brachte immer noch kein Wort heraus. Als der Wagen zurück auf die Strasse rumpelte, setzte sie sich auf den Rand des Brunnentrogs und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
Hans-Peter hatte ihr das Haus vererbt, dazu ein paar Hektaren Kulturland und etwas Wald. Der Notar empfahl ihr, falls sie Eigenbedarf geltend machen wolle, Hans-Peters Hypothek zu übernehmen. Die Liegenschaft war nahezu Schuldenfrei und mit einem minimalen Hypothekenzins von fünfhundert Franken monatlich würde sie steuer technisch nicht all zu sehr belastet. Der Wald und das Land war verpachtet und Hans-Peter hatte mit den Zins Einnahmen immer wieder nötige Reparaturen am Haus finanziert.
Anscheinend gab es Kaufinteressenten und der Schätzwert lag bei knapp 1 Million Franken.
Das war ein hübsches Sümmchen Geld. Genug um sich zur Ruhe zu setzen.
Gina lies den Blick schweifen und war hin und her gerissen. Aber wie sollte sie hier ihr Leben finanzieren? Krankenkasse, Hypo-Zins, Strom, Essen, alles kostete Geld.
Geld das sie nicht mehr verdienen würde. Sie sagte leise: "Ach Hans-Peter, du herzensguter Mensch! Vermachst mir dein Haus und ich kann doch nicht darin wohnen." Sie seufzte traurig und betrachtete wehmütig den verwilderten Garten und murmelte: "Es wäre so schön hier, aber ich werde wohl alles verkaufen müssen."
Aus den Augenwinkeln sah sie einen Schatten am Himmel und als sie sich ihm zu wandte, flatterte eine Taube vor den Hauseingang. Sie hielt etwas im Schnabel und legte es direkt vor die Tür. Gina traute ihren Augen nicht. Es war Lucie.
Die Taube klopfte mit dem Schnabel an die hölzerne Eingangstür, blickte zu Gina und flatterte davon. Gina ging zur Tür und sah einen Sonnenblumenkern davor liegen. Sie hob ihn auf und starrte Minutenlang darauf. Ihr schwirrte der Kopf. Hatte das etwas zu bedeuten?
Schließlich fasste sie sich und trat ins Haus. Überall auf der Rustikalen hölzernen Inneneinrichtung lag Staub. Hans-Peter hatte sehr bescheiden gelebt und Gina sah, dass er die Wohnung nicht mit unnötigem zugestellt hatte. Einzig die Küche entsprach Modernem Standard. Anscheinend hatte er sie noch kurz vor seinem Tod einbauen lassen. Im Spülbecken lag sogar noch der Teller, seiner wohl letzten Mahlzeit.
Sie betrat sein Schlafzimmer und erstarrte. Ihr Blick fiel auf das Ölbild direkt über dem Kopfteil des Bettes. Es zeigte zwei dicht beieinander stehende Sonnenblumen. Eine verdorrte, mit hängendem Kopf, die andere leuchtend gelb und das Haupt gegen den Himmel streckend. Gina öffnete die Hand und betrachtete den Sonnenblumenkern.
Leise fragte sie: "Willst du mir etwas mitteilen Hans-Peter?"
Einer inneren Stimme folgend, kniete sie sich auf das Bett und hob das Bild von der Wand. Dahinter kam ein Hohlraum zum Vorschein und darin lag etwas in ein Leinentuch eingewickelt. Als sie das Bündel hervorholte, flatterte ein Brief auf das Bett. Darauf stand ihr Name. Sie ging nach draußen und setzte sich auf die wackelige Holzbank neben dem Eingang. Neugierig öffnete sie den Brief.
Liebe Gina
Wenn du das liest werde ich, so der Herrgott sich meiner erbarme, im Himmel sein und mit großer Liebe im Herzen an dich denken.
Du hast mir in all den Stunden die ich bei dir sitzen durfte, meine große Qual etwas erträglicher gemacht. Wäre mein Leben anders verlaufen, wärst du genau die Frau gewesen, die ich mir an meiner Seite gewünscht hätte. Ich will dir nichts Erklären, denn die Erinnerung daran ist auch heute, über sechzig Jahre später immer noch sehr schmerzlich. Du findest im Bündel Unterlagen, die meine Vergehen offen legen. Bilde dir ein eigenes Urteil. Bedenke dabei aber bitte, dass alles in meiner Jugend passierte und ich seit damals niemandem mehr ein Leid zufügte.
In Liebe, dein Hans-Peter
Gina wickelte das Leinentuch auf und legte den Inhalt neben sich auf die Sitzbank.
In einem dicken Umschlag lagen mehrere Tausender noten. Sie erbleichte und ihr Herz klopfte bis zum Hals.
Dann nahm sie die braune Ledermappe zur Hand und begann die darin aufbewahrten Akten zu lesen.
Als sie damit durch war, liefen ihr fassungslos stille Tränen über das Gesicht.
Hans-Peter hatte als junger Mann unter Alkoholeinfluss, in Bern zwei Prostituierte Vergewaltigt und in Langnau eine Kellnerin. Er wurde 1954 gefasst, verurteilt und gegen seinen Willen Kastriert und dann in der Psychiatrie verwahrt. Erst Mitte der siebziger Jahre kam er wieder in die Freiheit.
Prolog
Es würde ein heißer Tag werden und Gina beschloss, gleich mit der Gartenarbeit zu beginnen. Sie trank einen letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse in die Spüle. Vor dem Haus stehend blinzelte sie in die aufgehende Morgensonne und bückte sich dann nach der jungen Katze die ihr um die Beine strich. Sie hob sie auf den Arm und murmelte: "Guten Morgen kleiner Schnurli, hast du auch so gut geschlafen wie ich?"
Sie ließ das Tier wieder auf den Boden gleiten und dachte: Wenn ich den Stall und die Pferche wieder auf Vordermann gebracht habe, besorge ich ein paar Hühner, Kaninchen, Ziegen, und vielleicht sogar einen Hund, der ihr Gesellschaft leisten würde.
Hätte ihr vor einem Jahr jemand gesagt, dass ihr das Schicksal so etwas zudachte, sie hätte es beim besten Willen nicht geglaubt. Das Geld von Hans-Peter und die kleine Rente die sie bald ausbezahlt bekam, waren mehr als genug, um sich keine Sorgen mehr zu machen. Außerdem hatte sie jetzt einen richtigen Garten der sie mit Gemüse, Kartoffeln, Beeren und Obst versorgte.
Gina kniete sich ins Unkraut, blickte zuerst ins schattige Tal hinunter und lächelte dann glücklich in die Sonne.
Kommentare
CSV30.07.2023 00:05
Was soll man sagen?... Eine rührende Geschichte. Könnte so geschehen sein ... oder auch nicht. Es gibt auch "ethische" Liebesdienerinen ...
Das US-Frauen-Kultbuch "The etical "Slut"(Schlampe) Greenery Press. Mit Voransage haben sie immer mehrere wechselnde Männerbeziehungen gleichzeitig für ihre intellektuelle und sexuelle Stimulation.
Schreiben Sie einen Kommentar
Bitte melden Sie sich an, um einen Kommentar zu schreiben.
Sie haben noch kein Konto?
Dann registrieren Sie sich hier!