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Der Pianist und das Mädchen

5 von 5 Sternen
Der Pianist und das Mädchen

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Eine Zufallsbegegnung wirft zwei junge Leute aus der Bahn: Jean-Luc, den gefeierten Jungpianisten, und die hübsche Herumtreiberin Aurie.

Dingo666

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Die letzten zarten Anschläge, die letzten verklingenden Töne. Jean-Luc ließ seine Finger noch für einige Sekunden auf den Tasten liegen. Er lauschte dem abschließenden, verminderten Akkord von Debussy nach, die Augen geschlossen.

Diesen Moment, diese Stille. Das war der Moment im ganzen Konzert, den er liebte. Den er herbei sehnte.

Absolute Ruhe. Innen und außen.

Dann setzte das Klatschen ein. Ein Stakkato-Rauschen. Ein Güterzug, der über unebene Schwellen fuhr, umschäumt von einer Brandungswelle. Die Abfolge von Impulsen komprimierter Luft zwischen Handflächen. Strukturen und Moiré-Muster aus ineinanderfließenden Zufallsrhythmen. Inseln der Ordnung im Wirbel des Chaos.

Jean-Luc hörte das frenetische Klatschen seiner Mutter aus der ersten Reihe heraus. Sie blickte sicher auffordernd in die Runde und trieb das Publikum an, mehr zu geben. Ihrem genialen Sohn die gebührende Referenz zu erweisen. Dem jugendlichen Starpianisten, dem aufgehenden Stern am Himmel der klassischen Musik. Ihrem über alles geliebten Kind.

Ihre verzweifelten Bemühungen fielen umso intensiver aus, als heute Abend nicht alle Sitzplätze im Palais belegt waren. Herren in dunklen Anzügen oder Jacketts gemäß der herrschenden Mode. Damen in cremefarbenen Abendkleidern und sommerlich knappen Kostümen. Liebhaber klassischer Klaviersonaten. Gebildete, geistreiche Menschen, die später in kleinen Gruppen zusammenstehen würden, Sektkelche in der Hand. Die sich gewählt über seine Darbietung, über seinen Anschlag, oder über die Dynamik seines Spiels austauschen würden. Oder – am wahrscheinlichsten – über ein anderes Thema, das nicht das Geringste mit Musik zu tun hatte. Diese Leute hatten die Konversation zu einer eigenen Kunstform erhoben.

Jean-Luc stand ruckartig auf, wandte sich dem Publikum zu, und verbeugte sich. Das Klatschen wurde lauter, eine Flutwelle, die an ihm hoch *******e. Für einige Sekunden war die Brandung im Gleichgewicht und ertränkte ihn fast mit ihrem Schaum. Dann flutete sie langsam ins Meer zurück, an ihm hinab und weg. Nach einer weiteren Verbeugung wandte er sich ab und schritt hinter den seitlichen Vorhang. Das Rauschen des Applauses verwandelte sich in letzte, einzelne Rinnsale, die endgültig in den Sand einsickerten und verschwanden.

Stattdessen ein neuer, arhythmischer Grundton, das Murmeln und Brummen der anhebenden Gespräche. Jean-Luc stand einen Augenblick hinter dem Vorhang und trat dann steif zur Seite weg.

Als er die kleine Treppe seitlich an der Bühne erreicht hatte, erklangen die ersten, zarten Töne seiner Musik, und er seufzte auf vor Erleichterung. Atonale und dennoch harmonische Kadenzen schwebten durch seinen Kopf, erzeugt von einem unbekannten Instrument. Irgendwo zwischen Samisen und Flügel, zwischen einer klagenden Flöte und dem makellosen Schmelz einer Violine.

Jean-Luc lächelte, schritt das Treppchen hinab und musterte die Grüppchen, die sich in Windeseile um die weiß bezogenen Bistro-Tische gebildet hatten. Solange seine Musik im Kopf ertönte, fühlte er sich gut. Stabil.

Mehrere der Tische waren leer geblieben. Jean-Luc wusste, dass seine Mutter besorgt war. Und dass er selbst auch besorgt sein sollte. Mit einundzwanzig war er langsam zu alt, um noch als „Wunderkind" durchzugehen. Ein Titel, der seine Konzertankündigungen schmückte, seit er mit elf Jahren zum ersten Mal auf einer grell ausgeleuchteten Bühne gestanden und auf das Publikum hinuntergesehen hatte. Damals war der Saal gerammelt voll gewesen. Dafür hatten – neben seinem unleugbaren Ausnahmetalent – die nimmermüden Anstrengungen seiner Mutter gesorgt. Doch in letzter Zeit wurden die Säle kleiner, und die Lücken in den Stuhlreihen größer.

Tatsächlich beschäftigte ihn das kaum. Etwa so, wie man dem Fortgang einer Handlung in einer Vorabendserie folgte, die man nicht besonders gerne sah: Etwas müßig und leicht gelangweilt. Getrennt durch eine dicke Glasscheibe. Erleichternd fern, angenehm nebensächlich.

„Jean-Luc, mein Liebster, da bist du ja endlich!"

Seine Mutter Marie flatterte um ihn herum wie ein Brutvogel um sein Küken. Er lächelte pflichtgemäß und ertrug es mit der ernsthaften Aufmerksamkeit des braven Sohnes. Marie zupfte ihm einige nicht vorhandene Fusseln von Revers seines Smokings und plapperte in einer Tour. Sie zerhackte die sphärenhaften Klänge in seinem Kopf, übertönte sie, machte sie nieder, wie ein Gartenhäcksler es mit lästigem Unkraut tat. Jean zuckte zusammen bei dieser Empfindung.

„Heute Abend war er nicht ganz in Topform, mein Kleiner. Innerlich ist er längst bei der Vorbereitung des großen Abschlusskonzertes in drei Tagen. Sie kommen doch hoffentlich auch zum Konservatorium, Monsieur Heradoux?"

Monsieur Heradoux lächelte unverbindlich und murmelte etwas Nichtssagendes zur Antwort. Das störte Marie nicht. Sie war in Topform. Wie jedes Mal, wenn sie seine Auftritte vorbereitete, die Veranstalter umwarb, oder die Pressemeldungen schrieb und die Homepage aktualisierte. Eine nimmermüde Redemaschine. Ein Maschinengewehr der Plattitüden. Ein östrogengetriebenes Perpetuum mobile, beseelt durch reine Mutterliebe. Ein Marschflugkörper, auf ein einziges, fernes Ziel eingerastet: seinen Erfolg. Seinen großen, finalen, überwältigenden, allumfassenden Durchbruch als Konzertpianist.

Er wusste, dass sie die Dinge anders wahrnahm als andere Menschen. Als die Kritiker beispielsweise, die schon über ihn berichtet hatten. „Technisch perfekt, aber ohne Seele." war zu lesen gewesen, oder „Er spielt wie ein Musikcomputer der übernächsten Generation es vielleicht können wird." Marie hatte getobt und geschimpft. Lange, gehässige Tiraden über Leute, die es wagten, andere zu beurteilen, während sie selbst nur höchst mittelmäßige Musik zustande brachten. Wenn überhaupt.

Er hatte durchs Fenster geschaut und den Klängen in seinem Kopf zugehört.

Jean-Luc schüttelte einige Hände, lächelte brav, sagte nichts. Das war in ihrer arbeitsteiligen Methode nicht vorgesehen. Für das Sprechen war Marie zuständig. Er hörte ihr beiläufig zu, so wie er dem Klatschen zuvor gelauscht hatte. Erkannte Muster in ihrem nicht endenden Redefluss. Verborgene Tonfolgen, unbeabsichtigte Reime, kontrapunktisch ausgestoßenes Lachen. Seine innere Melodie passte sich unmerklich an und nahm diese Impulse auf, variierte sie, umschmeichelte das Hauptthema mit unendlich ausfächernden Ableitungen.

Damit war er wieder im Gleichgewicht. Nun konnte es stundenlang so weiter gehen, ohne dass es ihm etwas ausgemacht hätte.

Der Abend glitt an ihm vorüber wie eine Landschaft an einem Zugfenster. Distanziert und leer starrte er ihm hinterher. Irgendwann verabschiedete sich seine Mutter, um mit einem Reporter auf ein Gläschen zu einem Exklusiv-Interview zu verschwinden. Vorher sagte sie ihm genau, welche Linie er zu nehmen hatte, und dass er an der Türe der Straßenbahn auf seine Hände achtgeben sollte.

„Ja, Mama", meinte er und küsste sie auf die hingehaltene Wange, die nach teurem Parfum duftete.

„Denk daran, Deine Hände sind dein Kapital! Du musst gut darauf aufpassen, versprich mir das!"

„Ja, Mama."

Er versprach ihr das ein Duzend Mal pro Tag.

Ein wenig später saß er auf einer Bank in der weitläufigen Gartenanlage hinter dem Palais und sah auf den Miniatursee hinaus. Es war schon nach zehn Uhr. Eine Zeit, in der er üblicherweise längst zu Hause saß und entweder eine letzte Übungsrunde spielte oder mit seiner Mutter einen Film im Fernsehen sah. Meistes auf Arte, manchmal auf France 1. Marie verabscheute die Privatsender mit ihrem Lärmprogramm und ihren Actionstreifen. Sie sprach oft davon, das Gerät abzuschaffen und nur noch Radio zu hören. Klassik natürlich.

Heute war sie im Dienst. Das bedeutete, er hatte frei. Und wie üblich keine Ahnung, was er in diesen freien Stunden machen sollte. Also saß er hier, sah auf das spiegelglatte Wasser hinaus, und verfolgte, wie sich der Himmel langsam von einem satten Tiefblau zu einem lichten Sommernachts-Fast-Schwarz verdunkelte. Und hörte die ganze Zeit seiner Musik zu, die sich unmerklich anpasste. Jetzt, kurz vor dem endgültigen Einbruch der Finsternis, klang sie wie Waldhörner und ein einsamer Kontrabass.

Plötzlich ein Lachen. Jung, lebendig, grell. So wenig zu seinen inneren Tönen passend, dass es sich schon wieder richtig anhörte. Ein Ausruf, unterdrücktes Gelächter. Jean-Luc drehte sich um.

***

„Heee, diese ver****te Dornen! Haben mir mein schönstes Hemd durchlöchert!"

„Psst, nicht so laut, du blödes Arschloch! Sonst hört uns noch jemand."

Aurie kicherte unterdrückt. Claudes Ermahnung an Jac kam in einer Lautstärke, die nicht unbedingt geeignet war, eine Entdeckung zu verhindern. Sie trank einen Schluck aus der Sektflasche in ihrer Hand und nahm kaum wahr, wie die Flüssigkeit durch ihre Kehle rann, süß und halbwarm.

„So, mein Schatz, gleich sind wir da! Du wirst staunen!"

Claude grinste sie mit seinem unnachahmlich breiten Grinsen an: Mund weit aufgerissen, Augen ebenso, Zähne gefletscht. Aurie musste wieder lachen, obwohl sie die Grimasse nicht mehr lustig fand.

Früher hatte sie zu Claude aufgesehen wie zu einem herabgestiegenen Gott. Seine übertriebenen Faxen, seine Clownerien und wilde Streiche schienen ihr die Krönung weltmännischer Lebensart. Jetzt, nachdem sie über als ein Jahr mit ihm zusammen war – mehr oder weniger jedenfalls – da hatten sich die meisten seiner Sprüche und Gesten abgenutzt. Hinter Claude, dem Gott, war Claude, der Mensch hervorgetreten. Keine gute Entwicklung. Claude, der Mensch, war zwar drei Jahre älter als sie. Das bedeutete aber nur, dass er die Schule drei Jahre vor ihr abgebrochen hatte und seitdem arbeitslos durch die Banlieus zog.

Aurie lachte trotzdem noch einmal und ließ sich mitziehen. Neben ihr trabten Jac und Pilli und Chica, der Rest der kleinen Gang. Jac und Pilli hatten früher am Abend ein paar von den blauen Pillen eingeworfen und bekamen kaum mit, was lief. Nur Chica schien einigermaßen klar. Sie war sechzehn, schmächtig, und bestand nur aus riesigen Augen unter den Punkersträhnen. Aurie wusste, dass sie heimlich in Claude verknallt war.

„Heee, hier waren wir doch schon mal!"

Jac blieb stehen und stierte die weiße Fassade des kleinen Schlösschens an, das vor ihnen zwischen den Bäumen aufgetaucht war. Aurie sagte nichts. Sie hatte bereits vor einigen Minuten bemerkt, wohin Claude sie unter großer Geheimhaltung führte. Verwirrung erfüllte sie. Genau vor einem Jahr, an ihrem siebzehnten Geburtstag, waren sie ebenfalls in diesem abseits gelegenen Park gewesen. Und heute, an dem Abend, an dem sie endlich volljährig wurde, hatte Claude ihr etwas Einmaliges versprochen. Warum, um Himmels Willen, wollte er an diesen Platz zurück?

„Hier lang!"

Claude achtete nicht auf den Einwurf, sondern schlich sich auf die Seite des Gebäudes und tastete gezielt das kleine Fenster gleich rechts ab. Ein leises Klicken, er grinste ihnen mit erhobenem Daumen zu, und zog sich in die freie Fensteröffnung. Eine Minute später erschien er hinter den raumhohen Saaltüren, die auf die Parkterrasse hinausführten, und öffnete zwei der Flügel mit grandioser Geste.

„Mesdames et Messieurs, bitte sehr!"

Die vier schritten zögernd durch das Portal, eingeschüchtert von der Pracht der Umgebung. Üppiger Stuck verzierte die Wände des Saales, jetzt dunkle Kronleuchter funkelten an der Decke, und an den Seiten warteten Stehtische mit blütenweißen Stoffüberzügen.

Aurie bewunderte ein abstraktes Gemälde in frohen Farben und wünschte sich gleichzeitig, endlich wieder zurück zu sein. Zurück in Claudes chronisch zugemülltem Zimmer bei seiner Mutter, oder zurück in ihrer eigenen kleinen Dachkammer. Oder wenigstens in dem alten Schuppen hinter der Tankstelle, der das inoffizielle Hauptquartier ihrer Gruppe darstellte. Das war immer noch besser als der Knochenjob auf dem Markt, bei dem sie jeden Tag ein paar Euro mit Gemüsekisten schleppen und verdiente. Die Jungs machten sowas nicht, sondern gingen davon aus, dass sie ihren Lohn brüderlich mit ihnen teilte.

Claude winkte frenetisch, und sie folgten ihm zögernd nach vorne, in Richtung der Bühne. Auries Verwirrung steigerte sich, eine Mischung aus schmerzlich süßen Erinnerungen an ihren letzten Geburtstag und aus Ungläubigkeit, und Bangen. Claude würde doch nicht wieder ...?

Aber Claude tat es. Als sie alle vor dem Podest standen, da schwang er sich wie ein Cowboy auf den niederen Absatz. Von dort sah zufrieden auf sein Publikum, und pflanzte sich vor den großen, schwarzschimmernden Flügel. Er setzte ein pathetisches Gesicht auf, räusperte sich geziert, und griff in die Tasten.

„Happy birthday to yooooouuu, happy birthday to yoooouu, happy birthday, dear Auriiiieee, happy birthday to yooouu!"

Aurie starrte ihren Freund an. Dieser, unzufrieden mit der zurückhaltenden Reaktion seiner Gefolgschaft, winkte ihnen ungeduldig. Er spielte die simple Melodie erneut mit zwei Fingern und nicht ohne falsche Noten, und sang lärmend dazu. Die anderen fielen zögernd ein. Jac und Pilli sahen sich an, dann Aurie. Schließlich zuckten sie die Schultern und grölten mit. Chica warf ihr beim Singen fragende Blicke zu. Sie war letztes Jahr noch nicht dabei gewesen.

Aurie konnte nicht singen, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Vor einem Jahr hatte Claude genau hier genau die gleiche Show abgezogen! Er war extra für sie in dieses Palais eingebrochen, hatte die Tür geöffnet, und ihr mit den Resten seiner kindlichen Klavierkünste exakt dasselbe improvisierte Geburtstagsständchen geschmettert.

Oh, wie toll hatte sie das damals gefunden! So süß, und so originell. Wie Claude eben war. Weshalb sie ihn ja auch so liebte. Die ganze Zeit seither trug sie die Erinnerung an diesen Abend mit sich wie einen geheimen, behüteten Schatz. Einen Edelstein, den man heimlich herausholt, ihn betrachtet und sich an seinem Besitz erfreut.

Vorsichtig stellte sie die Sektflasche auf den Bühnenrand. Sie wollte nichts mehr trinken. Der leichte Schwindel im Kopf, der für eine so angenehm flirrende Stimmung gesorgt hatte, war ihr plötzlich zuwider. Übelkeit kroch aus ihrer Magengegend hoch.

„Heee, meine Süße. Freust du dich denn nicht?"

Claude hatte das Stück mit einem schrägen Akkord zu Ende geführt und runzelte die Stirn. Tatsächlich: Er hatte es völlig vergessen! Der schönste Abend ihres Lebens, und er hatte ihn vergessen!

„Doch", flüsterte sie erstickt, ohne ihn anzuschauen, und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Jac machte Anstalten, Claude zu erinnern. Aber alle kannten Claudes andere Seite. Er konnte kalt und gemein sein und zuschlagen, schnell wie eine Natter. In seinem Plan der Dinge war es nicht vorgesehen, dass Untergebenen ihn auf seine Fehler hinwiesen. Jac klappte den Mund zu.

Claude wollte gerade zu etwas Ärgerlichem ansetzen, als seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Alle drehten sich um. Im offenen Durchgang zum Garten stand jemand mit einem Smoking und einer Fliege am weißen Hemdkragen.

***

Jean-Luc hatte den Jugendlichen von seiner Parkbank aus nachgeschaut wie Außerirdischen. Ganz abstrakt wusste er, dass es außer ihm und den paar Bekannten am Konservatorium auch andere junge Leute in der Stadt gab. So wie er wusste, dass es wahrscheinlich Leben auf fernen Planeten gab. Aber er hatte so wenig Berührungspunkte mit ihnen, dass ihre Bewegungen und ihr Lachen, ihre fast unverständliche Sprache exotisch und fremdartig auf ihn wirkten. So als kämen sie aus einer unbekannten und geheimnisvollen Kultur. Aus Papua-Neuguineau vielleicht, oder aus der inneren Mongolei.

Normalerweise wäre er froh gewesen, dass sie vorbeizogen, ohne ihn zu bemerken. Er wäre jetzt aufgestanden und weggegangen, hätte einen Sicherheitsabstand eingelegt. Heute war es anders, auf eine eigentümliche, nicht genau zu greifende Art. Er bemerkte es daran, wie die Musik in seinem Kopf sich wegen der Störung veränderte. Nicht wie sonst, indem die Instrumentalisten zwischen seinen Schläfen die Außengeräusche durch liebliche Halbakkorde wegspülten. Sie griffen stattdessen das Lachen auf. Ein helles Fagott antwortete darauf, und ein Klavier mit einem spielerisch schnellen Triller in den oberen Oktaven.

Wie hypnotisiert stand er auf und folgte ihnen. Er war noch nicht auf der Terrasse, als er das ungelenke Klavierspiel hörte. So schmerzhaft falsch in Melodie und Takt, dass er das Lied erst kurz vor dem Schluss erkannte.

Dennoch klagte sein inneres Orchester nicht darüber, sondern reagierte auf die schrägen Töne und formte eine Art beschwingte Polka daraus.

Ungewöhnlich. Und interessant!

Im halbdunklen Saal saß ein junger Mann am Flügel und sang laut und neben dem Ton. Etwa in meinem Alter, dachte Jean-Luc abwesend. Vor der Bühne stand ein anderer, schmächtigerer Typ mit einer Bierflasche, daneben einer mit dunkler Hautfarbe. Außerdem ein hübsches Mädchen mit blonden Haaren, und ein kleineres, schwarzhaariges. Sie trällerten zögernd mit, ohne Herz in der Stimme.

Der am Klavier war nicht zufrieden. „Heee, meine Süße. Freust du dich denn nicht?", hörte er ihn fragen.

„Doch!", antwortete die Hübsche leise, aber ihr Tonfall strafte die Aussage Lügen. Die Miene des Pianisten verfinsterte sich. Dann sah er Jean-Luc und sprang auf. Auch die Übrigen drehten sich um. Alarmierend schnell. Wie Katzen, die auf ein ungewohntes Geräusch reagierten. Sie trugen tiefhängende Jeans, kunstvoll bemalt und zerrissen, dazu Jacken und Pullover in Überweite. Und betont coole Kopfbedeckungen. Wollmützen und Baretts. Das Outfit wies sie als Angehörige eines fremden Stammes aus. Sein eigener – das wohlsituierte und gebildete französische Bürgertum – lebte weiter von ihnen entfernt als von jedem Maori.

Jean-Luc stand stocksteif da und hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Also blieb er stumm und tat nichts. Die Klänge im Schädel schwächten sich ab, wurden leiser, langsamer. Wie ein Soundtrack, der einer bevorstehenden Actionsequenz Platz macht.

„Was?", fragte der Typ auf der Bühne in einem drohenden Ton. Jean-Luc hätte gerne einen Schritt rückwärts gemacht, wäre am liebsten eilig davon gegangen. Doch er konnte sich nicht rühren. Er fühlte sich wie festgewurzelt.

„Wir haben nur... Musik gemacht!" In der Stimme des anderen schwang eine defensive Note mit. So als wolle er damit das nächtliche Eindringen und seine schauderhaften Künste erklären.

„Ich habe Geburtstag!", meinte das blonde Mädchen schnell und lächelte. Ihre Zähne blinkten in der halbdunklen Umgebung. Der neben ihr nickte eilig.

„Ah!", machte Jean-Luc und lächelte zum ersten Mal selbst. Vertrautes Gelände, endlich! Jetzt verstand er. Wenn seine Mutter Geburtstag hatte, überraschte er sie immer mit einem besonders schwierigen Stück, das er heimlich eingeübt hatte. Sie war dann so glücklich und so stolz. Manchmal standen Tränen in ihren Augen.

„Soll ich dir auch was spielen?", hörte er sich fragen. Er hatte noch nie für jemand außer seiner Mutter gespielt. Dabei zählten die Auftritte vor Publikum nicht, das war was anderes als ein persönlich gemeintes Lied. Aber dem Gedanken, diesem Mädchen vorspielen zu dürfen, haftete etwas Kindlich-Unschuldiges an. Und gleichzeitig ein Hauch von Sünde. Eine unwiderstehliche Mischung.

Die fünf starrten ihn an. Dann drehten sich die vier vor der Bühne wie auf Kommando um und sahen zu dem am Klavier auf. Dem schien die Aufmerksamkeit aus irgendeinem Grund gar nicht recht zu sein.

„Klar!", meinte der und warf die Hände über den Kopf, als sei das die normalste und langweilige Sache der Welt. Dennoch hatte Jean-Luc den Eindruck, dass er den Platz am Flügel ungern räumte.

Er kam in Bewegung und schritt steif durch die Stuhlreihen hindurch, dann vorne rechts und die drei Stufen zur Bühne hoch. Jemand kicherte, als er diesen Umweg nahm.

Der Typ machte den Hocker frei und wies mit übertrieben eleganter Geste auf die Sitzfläche. Jean-Luc lächelte unbehaglich und setzte sich. Vor ihm die Tasten, altvertraut, wie die Innenseiten seiner Zähne für die Zunge. Alles andere trat beiseite, verschmolz zum Hintergrund. Zum notwendigen Begleitumstand einer dreidimensionalen Welt, die für die ordentliche Ausbreitung von Schallwellen nun mal erforderlich ist.

Dort, wo sonst die Noten lagen, glänzte nur schwarzer Lack. Für einen Augenblick verfiel er in Panikstarre. Was sollte er spielen? Er hatte noch nie einfach so drauflos gespielt, irgendein Lied, aus dem Kopf.

Nicht weil er es nicht beherrschte – viele Partituren waren so tief in seinem Gedächtnis verankert, dass er im Schlaf jede Note hätte benennen können. Sondern weil Dr. Moreaux, sein erster Musiklehrer, immer „freies Spiel" mit dieser besonderen, leicht abfälligen Betonung ausgesprochen hatte. Seine Mutter hatte das übernommen und konnte heute noch „freies Spiel" genauso aussprechen wie Dr. Moreaux früher.

Er bemerkte, dass ihn alle erwartungsvoll ansahen. Vier Gesichter blickten zu ihm auf, fragend, neugierig. Das des hübschen Mädchens leuchtete förmlich, sie nickte ihm ermunternd zu und lächelte. Sie hatte eine tief ausgeschnittene Bluse an. Von seinem erhöhten Standort aus konnte er die helle Haut ihrer gut entwickelten Brüste und das Tal dazwischen einsehen. Sofort sah er anderswohin und schluckte.

Instinktiv griff er in die Tasten und brachte einen Auftakt von Bach. Seine Hände, seine Finger arbeiteten selbständig, lieferten fehlerfrei Note auf Note, in exakt der richtigen Dynamik und der passenden Betonung. Alles war so, wie es immer war. Wie es sein musste.

Und dennoch empfand er eine ungewohnte Unzufriedenheit mit seinem Spiel. Etwas fehlte.

Mit einem gewagten Tonartwechsel schwang er über zu einer Sonate von Mozart. „Mozart passt immer", hatte Dr. Moreaux oft gesagt. Aber jetzt passten die vertrauten Akkorde nicht. Nicht ganz, nicht so nahtlos wie sonst. Perfekt perlten die Töne aus den Tasten, doch unter der makellosen Oberfläche blieb eine seltsame Leere zurück. Verwirrt fragte er sich, ob diese Leere sonst nicht anwesend war oder ob er sie nur nicht wahrnahm. Nicht einmal das unbeholfene Kinderlied seines Vorgängers vor ein paar Minuten hatte dieses seelenlose Loch aufgewiesen.

Vielleicht...

Seine linke Hand trieb den Basslauf weiter, variierte ihn unmerklich. Die rechten Finger spielte die ersten Töne von „Happy Birthday".

Ah!

Jean-Luc lächelte erfreut. Das war leicht! Mit wachsender Begeisterung erschuf er aus dem Nichts eine beschwingte Mozartversion des Geburtstagsliedes. Schnelle, ornamentale Läufe rankten sich um die simple Melodie wie Lilienranken um ein Wappen. Wie von selbst fand sich eine zweite, eine dritte Stimme zum Grundmotiv.

Ein Ausruf, ein kurzes Klatschen lenkte ihn für einen Moment ab. Die vier Gesichter strahlten, da sie das Lied erkannt hatten, und nickten im Takt. Das blonde Mädchen wippte ein wenig. Sie war groß und schlank und erinnerte ihn an einen Gepard.

Es gefiel ihnen! Aus unerfindlichen Gründen war ihm das wichtig. Viel wichtiger als alles, was seine Professoren vom Konservatorium sagen mochten. Oder die Kritiker in den Zeitungen, oder seine Kollegen. „Freies Spiel" war wohl doch nicht so schlimm.

Mit wachsendem Selbstvertrauen ging er zu Tschaikowski über, zu Debussy, zu Händel. Jeder der alten Meister gab ihm seine eigene, spezielle Variante von „Happy Birthday", schenkte Töne und Taktmaße, Läufe und Kontrapunkte.

Als Jean-Luc beherzt weiterspielte, da bemerkte er nicht einmal, dass sein inneres Konzert leise geworden war, fast verstummt.

***

Aurie sah mit offenem Mund zu dem dünnen jungen Mann hoch. Er hatte so komisch ausgesehen, als er sich so ernst und gesammelt an das Klavier setzte. Für einen Moment hatte sie eine hämische Bemerkung von Claude beinahe herbeigesehnt. Sie wollte lachen, wollte sich ablenken vom eigenen Schmerz, der nach wie vor unter ihrem Brustbein wühlte.

Dann fing er an zu spielen. Die ersten Töne waren noch zurückhaltend, doch gleich darauf orgelte der Flügel los wie ein hochdrehender Sportwagen. Die ungewohnte Flut von klanglichen Eindrücken überforderte sie fast. Zu weit war diese Art von Musik von dem entfernt, was sie sonst hörte oder kannte. Aber als zwischen dem melodischen Rauschen die vertraute Folge von „Happy Birthday" aufschien, da war es wie ein Rätsel, das sich unvermittelt von alleine löste. Sie lachte auf, klatschte in die Hände, und verfolgte atemlos, wie sich das Lied weiterentwickelte, drehte, tanzte, und sich dabei in raffinierten Endlosschleifen um sich selbst zu schlingen schien.

Claude stand hinter dem Pianisten, die Fäuste in die Hüften gestemmt und das Gesicht zu einer analytisch-kritischen Maske verzogen. So als müsste er noch abwägen, ob er dem Treiben zustimmen sollte. Ob er dem Können des anderen Respekt zollen würde. Doch gleichzeitig war seine Geste schon vertrocknet, verdorrt, zur Bedeutungslosigkeit zerfallen. Er war raus. Er hatte in diesem neuen, musikalischen Universum keinen Platz, er gehörte nicht zu dieser allumfassenden Schöpfung. Und er wusste es, das zeigten seine herabhängenden Schultern deutlich.

Auf einmal hatte Aurie den Eindruck, Claude zum ersten Mal so zu sehen wie er tatsächlich war. Ein sehniger junger Mann, der seine Hilflosigkeit mit Getue übertünchte und damit ein Reich regierte, das nur in seiner Einbildung existierte. Der andere, noch schwächere Geister brauchte, um seine haltlosen Fantasien zu stützen. Dem im Grunde nichts und niemand etwas bedeutete, außer seinem eigenen falschen Stolz.

In ihrem Kopf toste der nicht endende Strom der Musik wie ein Gebirgsbach durch eine Schlucht. Die klingende Woge spülte alles hinweg, was nicht felsenfest verankert war. Sie verstand nichts mehr. Weder ihre Idee, in jemand wie Claude verliebt zu sein, noch was sie mit der Gang verband. Oder was sie überhaupt wollte. Was sie suchte. Auf dieser weiten Welt musste es doch mehr für sie geben als nur Herumhängen, Drogen ausprobieren, und Gemüsekisten schleppen?

Der Pianist hieb wie besessen in die Tasten und trat gleichzeitig unten auf den Pedalen herum. Der Flügel donnerte und hallte und füllte den Palais so dicht mit ineinander verwobenen Klängen, dass sie kaum Luft zum Atmen bekam. Aurie spürte ein bekanntes Brennen in den Augenwinkeln und blinzelte heftig. Auch das verstand sie nicht – sie hatte noch nie wegen Musik weinen müssen.

Mit letzten, klagend langgezogenen Akkorden kam er zum Schluss. Die Töne verhallten einzeln in dem Saal. Sie blieben wie mit Widerhaken im Gehirn haften, lange nachdem wieder die tiefe, abendliche Stille herrschte.

Niemand bewegte sich, für ein paar Sekunden.

Endlich räusperte sich Claude, was sich fürchterlich falsch anhörte, und hieb dem Unbekannten auf die Schulter.

„Nicht schlecht, nicht schlecht!", meinte er lärmend. „Kannst echt spielen, Alter! Echt!"

Der Musiker zuckte zusammen und drehte sich um. Er schien vergessen zu haben, dass die ganze Zeit jemand hinter ihm gestanden hatte.

Claude sprang schon nach vorne von der Bühne, dicht neben Jac. Er rieb erwartungsvoll die Hände, als könne er die nächste Attraktion des Abends kaum erwarten.

„So! Was machen wir jetzt? Sollen wir uns eine DVD besorgen? Den neuen Besson vielleicht?" Er sah seine Truppe aufmunternd an.

„Ja... warum nicht?", meinte Pilli dumpf und schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte auch er das Problem mit den Widerhaken. Aus seiner Stimme sprach wenig Begeisterung, doch die automatische Bestätigung von Claudes Plänen war für ihn zur Gewohnheit geworden.

„Also schön, los geht´s! Tschüss Alter!" Sein flüchtiger Gruß zurück zur Bühne enthielt höchstens einen halben Blick.

„Ich... ich bleibe", hörte Aurie sich sagen, zu ihrer eigenen Überraschung. „Ich will noch ein bisschen zuhören."

Die anderen starrten sie an. Und ohne dass ein weiteres Wort gewechselt worden wäre, war Aurie klar, dass sie ab sofort nicht mehr zur Gang gehören würde.

„Na schön. Ist ja dein Geburtstag heute. Du kannst tun und lassen was du willst. Bis später dann", brachte Claude heraus, bevor er sich mit einem Ruck umdrehte und mit in den Taschen vergrabenen Händen hinaus stapfte. Die übrigen drei folgten ihm wie die Reste einer geschlagenen Armee. Aurie empfand kein Bedauern.

Zurück blieb nur sie selbst, und der junge Mann, der den Abschied mit unbewegter Miene verfolgte. Er hatte ein ernstes Gesicht mit fein gezeichneten Zügen. Unbestimmbar fremdländisch, fand Aurie. Ähnlich wie diese Comics aus Japan. Mangas, oder wie die hießen. Da sahen die Leute auch immer so anders aus, ohne dass man sagen konnte, wieso.

Er sah sie nur an, wortlos. Aurie lächelte schüchtern.

„Hallo", sagte sie. „Ich bin Aurie. Aurelia eigentlich. Das war schön, was du da für mich gespielt hast."

„Oh", antwortete er. „Danke. Äh – ich heiße Jean-Luc. Ich, äh, ich bin Pianist." Gleich darauf biss er die Zähne zusammen, als ärgere er sich über seine eigenen Worte. Aurie nickte ernsthaft.

„Soll ich noch was für dich spielen?", fragte Jean-Luc eilig.

„N-nein", zögerte sie. Plötzlich wusste sie genau, wie das andere Geschenk aussah, das sie heute bekommen würde. Sie musste tief Luft holen. Ein leises Prickeln durchzog ihren Körper.

„Nicht?"

„Lass uns lieber einen Spaziergang im Park machen, ja?"

„Äh – gut."

Jean-Luc erhob sich und wandte sich schon nach links, um wieder das Treppchen herabzusteigen. Dann verhielt er, ging vor zur Bühnenkante und sprang ein wenig ungeschickt neben sie.

„Hallo", wiederholte sie und lächelte ihn an. So aus der Nähe sah er richtig gut aus. Er war größer, als er zunächst gewirkt hatte, und überragte sie um einen halben Kopf. Der dunkle Anzug und die Fliege verliehen ihm eine eigentümliche Würde. Wie bei einem Pfarrer oder so. Umso besser, das passte auf eine ganz eigene Art zu ihren Vorstellungen.

„Hallo." Er lächelte schüchtern zurück und wagte kaum, sie anzusehen. Sie ergriff seine Finger.

„Komm."

Der Park lag da wie ein verzaubertes Nachtparadies. Die Scherenschnitte der Bäume standen schwarz vor einem Indigo-Himmel, dahinter schimmerte der See im Licht des Mondes. Die Sterne glitzerten als Lichtpünktchen, die ein ungeduldiger Maler mit einem einzigen, grandiosen Pinselstrich über das Firmament verteilt hatte.

Schweigend trotteten sie den Weg entlang, sahen sich nicht an. Nur die Hände hielten sich umfangen. Ein Schutz, ein wortloser Ausdruck, ein Versprechen. Aurie fühlte sich eigentümlich leicht. Fast als könne sie fliegen, wenn sie nur ernsthaft wollte.

***

Jean-Luc kam sich vor wie in einem Film. Ein Streifen für Jugendliche vielleicht. Hübsch gemacht, aber nicht ganz ernst zu nehmen. In der Wirklichkeit nahmen einen attraktive Mädchen nicht einfach so bei der Hand und zogen einen in die Nacht hinaus. Ihm jedenfalls war das noch nie passiert, und er war immer davon ausgegangen, dass es anderen Männern ebenso wenig passierte. Wobei er sich nicht zu hundert Prozent sicher war. Schließlich wusste er nicht viel von anderen.

Von der Umgebung bekam er nichts mit. Er war zu sehr damit beschäftigt, dem Druck von Auries Fingern nachzuspüren und ihr ab und zu einen Blick aus den Augenwinkeln zuzuwerfen. Sie war kleiner als er, und auch jetzt zog der Ansatz ihrer runden Brüste seine Augen immer wieder magisch auf sich. Der hauchfeine Duft eines Parfums schien direkt von dieser Quelle aus aufzusteigen und seine Nase zu umtanzen.

Eine Landzunge ragte in den See, der Weg endete dort bei einer Bank. Über die schwarzen Silhouetten der Bäume schimmerte ein fast voller, weißer Mond und tauchte den Park in Silbertraumlicht. Das passte perfekt zu dem Film, in dem Jean-Luc sich empfand. Die Realität spielte hier keine Rolle, sie war meilenweit entfernt. Sicher hinter der Glasscheibe ausgesperrt.

Sogar den Soundtrack konnte er hören. Seine innere Musik untermalte die Szene mit einzelnen, locker zusammenhängenden Tönen. Weiche Anschläge, zart verklingend. Nur seine eigene Rolle erschien ihm seltsam unklar. Sollte er wirklich ...?

Aurie verhielt am Ende des Weges und wandte sich ihm zu, hob das Gesicht. Die glatten, blonden Haare glänzten silbern, sie sah ihn aus dunklen Augen an, mit leicht geöffneten Lippen.

Und plötzlich wusste er, wie seine Rolle aussah, was dazu im Drehbuch stand. Wusste es so genau, als hätte er es selbst geschrieben. Er fasste das Mädchen mit beiden Händen um die Mitte – er erschauerte innerlich, als er die sanfte Rundung ihrer Taille unter seinen Fingern spürte – und küsste sie auf den Mund.

Warm. Zart. Herzergreifend süß.

Der Film verschwamm, wurde unscharf, unwichtig, und er schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich. Sie schmeckten nach Beeren, und nach unbekannten Früchten. Arme schlangen sich um seine Schultern, weiches Fleisch drückte sich von vorne an ihn. Brüste, Bauch, Schenkel. Automatisch bog er seinen Unterleib zurück, wich aus. Was, wenn sie die halbe Erektion bemerkte, die sich schwer pochend in seiner Hose entwickelt hatte?

Aurie stieß einen unterdrückten Laut aus und presste sich enger an ihn. Sie musste sein Glied an ihrem Unterbauch spüren.

Für eine Sekunde schwang Beklommenheit in seinem Herzen und er holte tief Luft. Was, wenn er es versaute? Wenn er etwas Falsches tat? Wenn er sie auf eine Art berührte, die sie nicht wollte? Sie würde böse auf ihn sein! Bei diesem Gedanken versteifte er sich am ganzen Körper.

Das Mädchen bemerkte es und löste den Kuss mit einem leisen Geräusch. Sie sah fragend zu ihm hoch.

„Was ist?", fragte sie.

„N-nichts.", meinte er und schluckte. Was tun? Was tun? Hastig suchte er mit den Lippen erneut die ihren und küsste sie. Das war sicher, das war erprobt. Das mochte sie, soweit war er auf dem richtigen Pfad, oder?

Ja, das musste stimmen. Sie umarmte ihn mit neuer Verve, und irgendwie war ihr Mund plötzlich offen und ihre Zungen berührten sich, tasteten gegeneinander. Ihr Atem mischte sich mit seinem, unbeschreiblich süß und verlockend.

Jean-Luc ließ sich mitziehen, mitreißen, mitfließen. Der Kuss wurde zu einem lebendigen Ding zwischen ihnen. Zu einem quirligen, feuchten, kleinen Tier. Es suchte und wollte und brauchte. Dazu passte es gut, die Arme um Auries Rücken zu schlingen, sie enger zu fassen, näher. Seine rechte Hand lag auf einmal auf etwas unverkennbar Weichem, Rundem.

O Gott! Er hatte ihren Po umfasst!

Wieder traf ihn die Unsicherheit wie ein nasses Laken ins Gesicht. Wieder erstarrte er, verwirrt und fast paralysiert. Gefangen zwischen dem sehnlichen Wunsch seiner Hand, diese unwiderstehliche Form weiter zu erkunden, und seiner Angst davor, einen falschen Ton zu spielen. Davor, dieses unfassbar schöne Konzert von einer Sekunde auf die nächste zu ruinieren und sie davon zu treiben.

Der Gedanke an sein Klavier führte dazu, dass seine Finger ein eigenes Leben entwickelten. Die Kuppen drückten sanft hinein in das weiche Fleisch unter dem Jeansstoff. Aurie reagierte, bewegte sich leicht.

Und plötzlich fiel alle Furcht, alle Besorgnis von ihm ab, wie Schneematsch von einem losfahrenden Auto. Fast hätte er aufgelacht vor Erleichterung.

Das war genauso wie Klavierspielen! Er konnte sie spüren, konnte sie lesen, sie verstehen. Das Spiel seiner Finger und der Klang, den er damit in ihr erzeugte, das bezog sich aufeinander. Sie wirbelten umeinander, tanzten zusammen, verschmolzen und wurden eines. Als er seinen Griff verstärkte und fest um ihre linke Pobacke fasste, da brauste in seinem Kopf ein majestätischer Akkord auf, zu dem sie sich wand und drehte und unter seinen Lippen sehnsüchtig aufseufzte.

Mit traumwandlerischer Sicherheit tastete seine andere Hand nach ihrer rechten Brust und nahm sie, streichelte über die volle Form. Wie von selbst fanden seine Fingerspitzen die harte Knospe, die sich ungeduldig durch den Stoff bohrte, und rieben spielerisch darüber. Ihr Leib war wogendes Gras in seinen Armen, sie gab sich seinem Streicheln hin, schwang mit. Das Ensemble folgte diesem Lauf. Ein Dutzend Streicher bewegten ihre Bögen im Takt seiner Berührungen. Die schmelzenden Töne schmeckten wie ihre Zunge, fühlten sich an wie diese fantastisch geformte Kurve unter seiner Handfläche.

Wie sie auf dem Boden landeten, bekam er nicht richtig mit. Das musste bei diesem Stakkato-Einsatz des ganzen Orchesters passiert sein. Ihre Hüften pressten sich in einem langsamen Metrum gegeneinander und mahlten, und ihre Schenkel öffneten sich bereitwillig – nein, sehnend. Dann lag sie keuchend auf dem Rücken im Gras, neben einem Blumenfeld, er halb auf ihr, sie immer wieder küssend. Mit einem ungeduldigen Laut riss sie das Oberteil über den Kopf und nestelte es von den Armen, als würde es ihre Haut verbrennen. Jean-Luc erhaschte einen kurzen Blick auf vom Mondschein silbern übergossenen Brüste in einem zu knappen, weißen BH.

Da fasste sie ihn schon um den Nacken und drückte ihn darauf hinunter. Sein Gesicht traf auf weiches Fleisch. Er bekam den verwirrend feinen Duft ihres Körpers in die Nase. Mit einem eigentümlich lockenden, dunklen, Heißhunger auslösenden Ton darin. Gierig schlossen sich seine Lippen über der nachgiebigen Halbkugel und er stellte fest, dass er nicht nur mit seinen Fingern Musik erzeugte. Die sanften Fanfarenstöße stammten eindeutig von seinen Küssen auf Auries Busen.

Sein Mund berührte Stoff, einen dünnen Saum. Fieberhaft drängte er das beiseite, seine Zunge tauchte darunter, fand den hart geschwollenen Kegel der Spitze. Leckte, saugte. Er spielte kein Klavier mehr, sondern ein exotisches Blasinstrument. Einen ätherischen Dudelsack, der sich um ihn wand und rieb, und der so unvergleichlich reiner und harmonischer hallte als alle seine schottischen Vettern.

***

Aurie zerrte erregt an dem BH. Irgendetwas riss, und das Hindernis war aus dem Weg. Ihre Brustwarze fand sofort hinein in die saugende, kitzelnde, knabbernd aufstachelnde Höhlung seines Mundes.

Sie stöhnte hemmungslos und erbebte. Fahrig streichelte sie den auf und ab gehenden Hinterkopf und lachte lautlos in den Nachthimmel. Jean-Luc hatte so gehemmt, so unerfahren gewirkt, als sie ihn bei der Hand nahm. Sie hatte sogar vermutet, dass er noch niemals eine Freundin gehabt hatte. Dass sie es ihm zeigen musste, ihn führen, einweihen in die Geheimnisse der Körper. So wie sie eingeweiht worden war, vor Jahren.

Nun legte er unvermutete Expertise an den Tag und berührte sie mit so viel Kenntnis. Bedachtsam, aber keineswegs ängstlich. Sie fühlte sich so geborgen und behütet in seinen Armen wie in einen Traum. Er würde nicht zulassen, dass es schieflief. Dass ein Misston die herrlich aufflammende Erregung erstickte. Dass ihr zweites Geburtstagsgeschenk weniger fehlerfrei, weniger überwältigend sein würde als das erste, das er ihr mit seinem Klavierspiel dargebracht hatte.

Er umfasste beide Brüste und liebkoste sie eindringlich, mit Händen und Lippen. Aurie bog das Rückgrat durch, wollte ihm mehr ihrer schwelenden, ungeduldigen, hungrigen Fülle in den Mund stopfen, sich von ihm verschlingen lassen. Kantige Zähne drückten in nachgiebiges Fleisch und um hart aufgetriebene Knospen. Die Reize fachten den brodelnden Aufruhr in ihrem Leib weiter an.

Dann trafen erste Küsse ihre Rippenbögen, ihren angespannten Bauch, ihren Nabel. Mit einem Maunzen griff sie um sein Gesicht herum, nestelte hektisch Knopf und Reißverschluss der Jeans auf und hob den Hintern vom Grasboden, um die Hose über die Hüfte zu schieben. Sein Mund folgten dem weichenden Stoff wie ein Hütehund der Herde, berührten ihren Unterbauch, die Fuge zwischen Leib und Schenkel, und schließlich die flauschigen Haare auf dem harten Kamm ihres Schamknochens.

Die halb herabgezogene Hose hielt ihre Beine fest zusammen. Aurie jammerte. Sie wand und drehte sich, um die Schenkel zu öffnen für diese vordringenden, lockenden, suchenden Lippen. Endlich halfen andere Hände, und mit einem erlösten Knurren klappte sie die Knie auseinander und schob den Unterleib nach vorne. Gleich darauf fand ein Mund die Stelle dort, die vor Ungeduld pulsierte. Seufzend streckte sie den Kopf zurück, weit in den Nacken, und sah mit einem entrückten Lächeln zu den Sternen auf. Wie im Traum lauschte sie den Schmatzlauten von unten und gab sich den Liebkosungen von Jean-Lucs Mund und Zunge hin.

Die nächtliche Luft war kühl hier, direkt neben dem Wasser. Eine leichte Brise strich über ihre Haut und alle Härchen stellten sich mit einem leisen Prickeln auf. Dennoch war ihr nicht kalt. Die Hitze aus ihrem Bauch breitete sich aus wie flüssiges Zinn, kroch ihr in die Glieder und bis dicht unter die Oberfläche. Das schmeichelte sie wohlig von innen her. Fast kam sie sich vor wie eine riesige Geburtstagstorte, von der ihr einziger Gast nach Herzenslust schlemmte. Ein Wald aus Kerzen brannte und verströmte Wärme.

***

Jean-Luc bohrte seine Zunge zum wiederholten Mal in diese winzige, bestrickend delikate Öffnung und schmeckte den Salzhonig darin, süßherb und verlockend. Er nahm eine Hautfalte zwischen die Zähne, um vorsichtig daran zu ziehen. Die Art, wie Aurie stöhnte und sich bewegte und die Art, wie seine innere Musik sich dazu entwickelte – all das führte ihn genauso sicher wie der Taktstock eines Weltklasse-Dirigenten.

Von ferne spürte er so etwas wie Verwunderung. Noch vor ein paar Minuten war ihm nur vage bewusst gewesen, dass man Frauen auf diese Art küssen konnte. Und nun hatte er das Gefühl, alles darüber zu wissen, was es zu wissen gab. Woher kam diese Einsicht, diese unmittelbare Erkenntnis? War das Instinkt? Wusste das jeder, sobald es soweit war? Oder war dies die logische Folge, wenn man nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und auf die richtige Partnerin traf?

Sorgfältig registrierte er die Reaktionen des Mädchens, als er wieder höher ging und die Stelle oben leckte. Perle! Ja, so musste dieses Knöpfchen da heißen. Hatte er das mal in einem Buch gesehen? In einem Film? Egal! Methodisch wie bei einer Etüde ließ er seine Zungenspitze darum kreisen und lauschte auf das zittrige Keuchen, lauschte auf die krampfartige Anspannung in den Schenkelmuskeln. In seinem Kopf wallte eine Armada von Cellos auf, untermalt von salzigen Flötenstößen.

Sie griff nach ihm, zerrte ihn empor, nestelte hastig an seinem Kragen. Er rappelte sich hoch, kniete neben ihrem bleichen, fast nackten Leib und riss an der Fliege. Ein halber Gedanke daran, wie Marie morgen fassungslos seinen ehemals besten, nun völlig ruinierten Anzug in den Händen halte würde. Ein einseitiges Grinsen, dann war es nur wichtig, das Zeug schnellstmöglich loszuwerden. Auries Finger zogen mit, fassten begehrlich nach seinen Rippen, brachten seine Oberfläche zum Brennen.

Und weiter, hinein in ein donnerndes Arpeggio, hinein in die Schlucht zwischen ihren angewinkelten Beinen, hinein in ihren offenen, saugenden, hechelnden Mund. Er lag unversehens auf ihr, der Bogen unter ihm wölbte sich, breitete sich aus wie ein Origami, an dem man zieht. Heiße Haut, fahrige Hände, Küsse, die fast ein Beißen darstellten.

Und unvermittelt eine andere Berührung, eine besondere. Unbekannt und gleichzeitig altvertraut. Eine Hüftbewegung, ein Eintauchen, in die tiefen warmen Wolken des Paradieses.

Ein neues Instrument mischte sich in den Klangteppich und übernahm die Führungsmelodie. Eine Posaune, im Format eines Güterzugs.

***

Aurie zitterte vor Ungeduld, als sich Jean-Luc auf sie schob. Endlich war alles richtig, alles passend, alles wie es sein sollte. Beinahe hätte sie geschrien vor Erleichterung. Ohne Umschweife griff sie nach unten, fasste nach ihm, ah, so erfreulich groß. Der Stoß kam gleichzeitig von ihnen beiden, doch fast zu früh, im falschen Winkel. Mit einer instinktiven Hüftbewegung fing sie ihn ein. Sie ächzte, als er in sie fuhr wie ein Pfahl in nachgiebige Erde.

Ja, das war es! Genau das! Dieser unvergleichliche, animalisch rohe, und zur selben Zeit engelhaft feine Kontakt. Diese intensive Reibung, diese hauchzarte Verschmelzung, dieser wahnwitzige Funkenregen purer, kreischender Lust.

Sie umklammerte ihn mit Armen und Beinen und überließ sich den vollendet austarierten Bewegungen. Sogar das klamme Gras, das sich bei jedem Rollen so vorwitzig an den Hinterbacken kitzelte, floss als ein zusätzlicher, spielerischer Reiz ein, als eine weitere kunstvolle Verzierung der Torte.

Die schönste Torte der Welt. Ihr Geburtstagsgeschenk!

***

Die Musik war nun für Jean-Luc allgegenwärtig, sie durchtränkte die gesamte Textur seiner Existenz. Paradoxerweise war er dadurch in der Lage, mehr von seiner Umgebung wahrzunehmen. Er sah, fühlte, hörte durch den Klang hindurch wie durch einen Vorhang aus Licht.

Staunend betrachtete er Auries entrücktes Gesicht, die stille Ekstase, die sich auf ihren leicht geöffneten Lippen und ihren zusammengepressten Lidern abzeichnete. Er legte eine Hand auf ihre Wange, an ihren Hals, und immer noch wusste er genau, wie sie reagieren würde, was sie mochte.

Die vollen Brüste schaukelten bei jedem seiner Stöße ruckartig auf und ab, winkten ihm zu wie begeisterte Zaungäste. Eine davon bedeckte er mit der Handfläche, presste.

***

Aurie stöhnte hingebungsvoll, als ihr unerwarteter, unvergleichlicher Liebhaber ihren Busen liebkoste und zusätzlich ihren Mund mit seinen Lippen verschloss. Diese Mehrfachkombination von Reizen überschlug sich, traf sie wie ein Sturm feiner Nadeln, überall in ihr hitziges Fleisch.

Eine neue Qualität von Wollust brach in ihr hoch. Ihre Bewegungen transportierten jetzt eine Eindringlichkeit, eine so akute Erlösungsnot, dass es ihr den Atem verschlug. Zitternd hing sie an dem sehnigen Körper über ihr und verging fast vor Erregung.

***

Jean-Luc hörte genau, wie das Stück ins Finale wechselte. Aurie stieß hechelnde Laute in seinen Mund aus und drängte auf das Tempo. Er selbst und das ganze Orchester folgten bereitwillig, und tief aus seinem Zentrum meldete sich ein letztes, unbegreiflich mächtiges Instrument zu Wort. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte es alles an sich gerissen, er war aufgesaugt, war nur noch Teil des Klangs. Der ihn nun antrieb, voranpeitschte, schmetterte...

Sämtliche Atome des Universums fanden zusammen, schwangen gemeinsam, in einem einzigen, machtvollen A, über achtundvierzig Oktaven hinweg.

***

Vibrierende Hitze erfüllte Aurie bis in die Fingerspitzen, bis ins letzte aufgerichtete Härchen. Sie spürte, wie ihr Lover sich heftig anspannte. Der abschließende Stoß traf sie wie ein Hammerschlag. Sie taumelte hinterher, lachend, hinein in den Schmelzofen des Orgasmus.

***

Er konnte ihren Höhepunkt spüren. Bekam ihn genau mit, haarfein abgestimmt mit seinem Erleben, ohne dass er etwas dazu tun musste. Dann...

***

Aurie schrie.

***

Jean-Luc lauschte. Verzückt.

***

Der Nachtvogel, von ungewöhnlichen Geräuschen am Wasser angelockt, umsegelte eine schwarzschweigende Buche und warf einen Blick nach unten. Er sah zwei Menschen in verschlungenen Bewegungen. Ein seltsames Licht ging von ihnen aus, als ob sie von innen heraus glühten.

Der Vogel veränderte seine Bahn und glitt lautlos davon. Die wie immer rätselhaften Aktivitäten der Menschen deuteten weder auf Futter noch auf Gefahr hin, und er vergaß sie im nächsten Augenblick.

Dennoch fühlte sich die Welt auch für ihn ein winziges Quäntchen anders an als zuvor.

***

Stille. Nur noch Stille.

***

Jean-Luc schloss die Augen. Der Saal voller Menschen, die festlich herausgeputzten Talare der Professoren, die Blicke der anderen Absolventen und seine Erinnerung an ihre makellosen Vorträge soeben – all das verschwand. Nur das unterdrückte Murmeln des Auditoriums blieb, ahnungsvoll und von einer verborgenen Spannung erfüllt.

Er wusste, seine Mutter saß in der zweiten Reihe. Die Hände im Schoß ineinander verkrampft, der Rücken kerzengerade durchgedrückt, die Aufmerksamkeit ausgerichtet wie mit einem Zielvisier. Auf ihn, der er oben alleine auf der Bühne saß, genau im Zentrum des einzelnen Scheinwerferkegels. Er wusste auch, dass andere wichtige Leute unten saßen. Dirigenten, Orchesterchefs, Musikmanager. Die Menschen, die ihm einen Job anbieten konnten. Oder die das nicht tun würden, ganz wie es ihnen beliebte. Seine Finger legten sich von selbst auf die Tasten. Er spürte die vertraute Härte unter den Kuppen und wusste exakt, wie sie auf seine Anschläge reagieren würden.

Das war er. Der zentrale Moment. Der Augenblick, auf den er fünf Jahre hin studiert hatte. Fünf Jahre, die im Rückblick ausschließlich aus den Stunden auf dem Hocker und den Noten vor ihm zu bestehen schienen. Warum empfand er nicht mehr? Weshalb erschien ihm das alles so nebensächlich? So irrelevant im Vergleich zu den Klängen seiner inneren Musik, die stumm zwischen seinen Schläfen hallte.

Das Raunen der Menge verstummte, machte einer erwartungsvollen Stille Platz. Blind, mit noch geschlossenen Augen, schlug er den ersten Akkord an. Er hatte am Vorabend eine Sinfonie von Dvořák ausgesucht und damit heimlich den seit Monaten tickenden Entscheidungsprozess seiner Mutter gekippt. Sie hatte Mozart für ihn gewählt. Mozart passte schließlich immer.

War sie das, die da unten so überrascht Luft holte? Oder alle diejenigen im Publikum, die das Programm gelesen hatten und jetzt verwirrt nachblätterten, weil Mozart sich plötzlich so anders anhörte?

Seine Hände tanzten. Sie kannten die Partitur, sie brauchten ihn nicht. Mechanisch und perfekt arbeiteten sie sich durch das Werk. Wie üblich übertönte die äußere Musik die innere, ohne sie völlig zum Schweigen bringen zu können.

Sein Kopf war frei. Frei zum Schweben, zum Träumen. Zum schwerelosen Schwingen. Er dachte an Aurie, natürlich. An die Nacht. An ihre Schönheit. Daran, wie sich ihre Haut an seinen zitternden Händen angefühlt hatte. Wie ihr Atem in seinen Mund gefahren war, wenn sie sich geküsst hatten. Wie sie sich unter ihm geräkelt und ihn umschlungen hatte. Das war so viel wichtiger als dieser dumme Auftritt.

Von Ferne registrierte er, dass auch seine Finger sich erinnerten. Das pure Leben, das er mit Aurie geschmeckt hatte, schien aus seinen Lenden durch den ganzen Körper auszustrahlen. Bis in die Fingerspitzen hinein. Und weiter, in die Tasten, in die Mechanik, die Saiten.

In die Musik.

Überraschte Atemgeräusche aus dem Publikum. So weit weg wie Planeten in einer anderen Galaxie, und ebenso unbedeutend.

Er fühlte wieder die wie zum Bersten gefüllte Energie, den elektrischen Strom, der ihn erfasst hatte, als er mit Aurie im Gras lag. Seine Hände hieben auf und ab, trafen mit traumwandlerischer Sicherheit die richtigen Stellen, meißelten die Klänge aus der Luft heraus wie aus einem Granitblock.

Er musste dazu nichts sehen. Nein, die Augen hätten nur gestört, würden ihm lediglich Unwichtiges zeigen. Noten zum Beispiel, die ihn auf falsche Fährten locken. Stattdessen gab er sich rückhaltlos der Strömung hin. Er ging mit, floss wie Tang in der Bewegung, dachte nicht. Der Klang schwoll an, nahm mehr und mehr Raum ein, schien die gesamte Halle auszufüllen und darüber hinaus zu fluten.

Und zum allerersten Mal stimmten seine innere Musik und das, was er spielte, absolut überein! Beide Tonströme schwangen in lupenreiner Synchronität nebeneinander, miteinander, ineinander.

Es war, als ginge mitten in seiner Stirn ein gewaltiges Tor auf und Licht fiele hinein. Sommersonne seinen tiefsten, innersten Kern. Jeder Sonnenstrahl vibrierte wie eine Saite, steuerte seinen eigenen Ton zu dem anwachsenden Crescendo bei.

Hatte Dvořák wirklich solche Stücke geschrieben? Stücke, in denen man mit beiden Fäusten und mit voller Kraft auf die Tasten einhämmern sollte? In denen der Pianist mit zitternd verkrampften Beinen dastand und auf sämtliche Oktaven gleichzeitig spielen musste? In der die komplette, feinstens austarierte Mechanik des Flügels ächzte und stöhnte? In der das Instrument Klänge von sich gab, die nicht von dieser Welt stammen konnten?

Doch selbst das waren recht nebensächliche Fragen. Sie tanzten kurz am Rande seines Bewusstseins entlang, wie Motten um ein loderndes Feuer. Genauso schnell wurden sie auch wieder verschlungen.

Er lag auf Aurie, zwischen ihren sehnsüchtig gespreizten Schenkeln, presste sich an ihren mahlenden Unterleib. Köstliche, weiche Formen unter seinen Händen, erfüllt von den Sphärenklängen jungen Fleisches. Ihr Keuchen, ihr Wimmern dicht an seinem Ohr, ein Widerhall des verschollenen Paradieses. Die schönste Modulation, die er je hören durfte, oder sich nur vorstellen konnte. Sein von selbst pumpender Körper, durchströmt von einer Begierde, so rein und klar und urtümlich wie ein Gletschergebirgsbach.

Der Flügel schrie. Seine Arme hackten, seine Hände tobten. Die Finger rasten über die Tasten und fanden mit traumwandlerischer Sicherheit den richtigen Druck, den stimmigen Sekundenbruchteil. Die Resonanz schwang höher, immer höher, in sich brandungsähnlich überschlagenden Kadenzen und Variationen, näher an die gleißende Sonne heran, die ihm direkt in seinen Kopf zu strahlen schien.

Bis zum.

Höhepunkt.

Dem Moment, in dem alles zum Stillstand kam. Alles übereinstimmte. Alles richtig war, so absolut perfekt. Jean-Luc lachte lautlos auf, ohne einen Ton auszulassen.

Das Stück dauerte noch mehrere Minuten. Zeit, in denen er sich und die Musik wieder tiefer schraubte. Zeit, die er und die Musik brauchten. In der sie zusammen leiser werden konnten, und langsamer, und feiner. Sein Mund bog sich in einem weiten Lächeln und er sank auf die Kante seines Hockers zurück. Er ruhte auf Auries schlankem Leib und spürte der ablaufenden Ebbe der geteilten Lust nach.

Endlich beruhigte sich die Flut zu einem Strom. Der verging zu einem Bach, löste sich in ein Rinnsal auf, in einzelne Tropfen. Letzte Töne. Ein abschließender Akkord, lange nachhallend.

Dann:

Absolute Stille.

Wie immer, wenn sein Spiel zu Ende war. Der kurze, kostbare Moment der Pause, bis das mühsame Rad sich erneut in Bewegung setzen würde.

Der Moment dauerte an.

Wurde zu Sekunden.

Zu vielen Sekunden.

Jean-Luc öffnete die Lider. Blickte in hunderte von aufgerissenen Augen. Sah aufgesprungene Gestalten, vor dem Gesicht verkrampfte Fäuste. Registrierte an die Brust gepresste Hände, zerzauste Haare, offene Münder. Er und das Auditorium starrten sich an wie zwei Einsiedler, die nach Jahren einen anderen Menschen zu sehen bekamen. Denen noch nicht wieder eingefallen war, wie diese seltsamen Wesen gleich genannt wurden.

Dann begann jemand zu klatschen. Vorsichtig und leise, irgendwo hinten links. Nach weiteren Sekunden schloss sich ein zweites Händepaar an. Ein drittes.

Viele mehr. Ein Ruf. Ein Pfiff. Trampeln. Johlen.

Schreien.

Die Menge pulsierte, als ob sie von seiner Musik elektrisch aufgeladen worden wäre. Einige schüttelten die Fäuste wie Prediger in Ekstase oder waren auf ihre Stühle zurückgesunken. Die allermeisten jubelten ihm so frenetisch zu, als sei er einer dieser Popstars.

Er blinzelte überwältigt. Sein Blick irrte umher, suchte seine Mutter. Marie kauerte auf ihrem Sitz, das Gesicht zwischen den Händen vergraben. Ihre Schultern zuckten.

Sie wusste, dass er ihr entglitten war. Dass sie ihn auf ewig verloren hatte.

Es berührte ihn nicht. Gerade hatte er bemerkt, dass seine Kopfmusik nicht spielte, sondern wohltuende Stille zwischen den Schläfen herrschte. Das war in Ordnung, das war gut so. Wenn er seine inneren Harmonien brauchte, würde sie da sein, das spürte er. Und solange konnte er sich auf diesen unglaublichen Beifallssturm konzentrieren, den die Zuhörer ihm schenkten.

Eine andere Bewegung zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Eine schlanke Gestalt, völlig unpassend in Jeans und etwas in schreiendem Pink gekleidet, drängte sich da im mittleren Gang nach vorne. Blonde Haare flogen um leuchtende Augen. Und was hielt sie da in der Hand? Das sah aus wie das Brett einer zerbrochenen Gemüsekiste.

Jean-Luc lächelte und sprang von der Bühne.

ENDE

(c) 2021 Dingo666
  • Geschrieben von Dingo
  • Veröffentlicht am 11.08.2021
  • Gelesen: 11828 mal
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Kommentare

  • CSV20.08.2021 13:20

    Die 5 Sternchen wurden schon gegeben. Von mir wieder 10.
    Hut ab! Und mehr davon!

  • HWJ27.02.2022 10:32

    Absolut TOP. Vielen Dank

  • Tari (nicht registriert) 09.09.2022 09:20

    Was für eine wunderschöne Geschichte! So viel Einfühlungsvermögen, auch so viel Musikverständnis, was für eine wunderbare Sprache. Ich bin extrem begeistert!

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